Lebenslang Ist Nicht Genug
Cherry Hill, wo sie wohnte, ignorierte man die Gefahr. Der Mörder trieb sich irgendwo hier in diesen Straßen herum, dessen war sie ganz sicher. In einem der alten, heruntergekommenen Häuser verbarg er sich vor der Welt. Aber nicht vor ihr, jedenfalls nicht mehr lange.
Sie suchte sich das Haus Nr. 17 aus, weil es sie auf seltsame Weise anzog. Ungeachtet des bröckelnden Anstrichs und der kaputten Dachrinne konnte Gail sich vorstellen, wie das Haus früher einmal ausgesehen haben mochte - solid, massiv, ja sogar anheimelnd. Sie hatte mehrere schlanke, blonde junge Männer hineingehen sehen. Und auf eine ganze Reihe anderer paßte die etwas großzügig ausgelegte Personenbeschreibung des Mannes,
den sie suchte. Er konnte sich schließlich die Haare gefärbt haben. Vielleicht hatte er sich auch einen Bart oder einen Schnurrbart stehen lassen. Möglicherweise war er inzwischen dicker geworden. Oder er hatte sich kahlscheren lassen.
Auf einem Schild im Fenster des Erdgeschosses stand: »Zimmer frei«. Man konnte für einen Tag, für eine Woche oder einen ganzen Monat mieten.
»Ich möchte gern ein Zimmer«, erklärte Gail der Frau, die ihr öffnete.
»Für wie lange?« fragte die Frau, die mit ihrem Pantoffel einen knurrenden Dobermann in Schach zu halten suchte.
»Ich weiß noch nicht«, antwortete Gail. Sie rechnete damit, in etwa einer Woche in ein anderes Haus ziehen zu müssen, wenn sie hier nichts erreichte.
»Dann zahlen Sie eben pro Nacht. Bar und im voraus«, verlangte die Frau. Gail sah, daß sie eine Zigarette zwischen den Fingern hielt. »Los, rein mit dir, Rebecca«, fauchte sie den Hund an, der sofort den Schwanz einzog.
Gail fand, Rebecca sei ein merkwürdiger Name für einen Dobermann. »Was kostet das Zimmer?« fragte sie und überlegte, ob die Frau wohl Ironie im Sinn gehabt habe, als sie ihren Hund Rebecca taufte.
»Fünfzehn Dollar die Nacht.«
»Fünfzehn Dollar«, wiederholte Gail. Sie suchte in ihrer Manteltasche nach Geld. »Das ist aber teuer.«
»Weiter unten kriegen Sie vielleicht was Billigeres«, meinte die Frau, »aber da ist’s auch nicht so hübsch wie bei mir. Fünfzehn Dollar pro Nacht. Wollen Sie das Zimmer nun oder nicht? Ich kann nicht den ganzen Tag hier rumstehen und quatschen. Ich verpass’ sowieso schon’ne halbe Fernsehstunde.«
Gail überlegte, welche Serie die Frau sich wohl anschaue, wagte aber nicht zu fragen. »Schon gut, ich nehm’s«, sagte sie und reichte der Frau die fünfzehn Dollar.
Die Frau zählte die Scheine nach, nickte und sagte: »Ich hol’ die Schlüssel.«
Als die Wirtin sie die Treppe hinaufführte, bemerkte Gail auf der schmutzigweißen Wand Flecken, die aussahen wie Blut. »Was sind das für Flecken?« fragte sie und deutete mit dem Finger auf die häßlichen, blaß-braunen Spuren an der Wand.
Die Frau sah nur flüchtig hin. »Keine Ahnung«, sagte sie, so als sei die Frage eigentlich gar keiner Antwort wert.
»Sieht aus wie Blut.«
Zum erstenmal lächelte die Frau. »Hm«, meinte sie, »das kann gut sein.«
Gail zog es vor, nicht darüber nachzudenken, wie das Blut dort hingekommen sein mochte. Statt dessen richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Beine der Frau, die vor ihr die Treppe hinaufging. Die Frau war nicht nur dünn, sie sah aus, als leide sie an Anorexie. Ihre Schenkel, die sich unter der schmuddeligen Hose abzeichneten, waren kaum dicker als Handgelenke. Komischerweise war sie tadellos frisiert, ihr Haar schien frisch gewaschen und eingelegt, ihre Nägel waren sorgfältig manikürt und in einem kräftigen Rot lackiert.
»Sind jetzt alle Zimmer belegt?« fragte Gail, als sie vor einer Tür haltmachten und die Wirtin den Schlüssel ins Schloß steckte.
»Eins ist noch frei«, sagte die Frau, stieß die Tür auf und gab Gail den Schlüssel. »Das ist es. Na?«
»Bitte?« fragte Gail unsicher zurück.
»Gehn Sie jetzt rein, oder was ist los?«
»Ja, ja«, versicherte Gail rasch. »Es ist sehr hübsch.«
»Weiter unten gibt’s billigere«, sagte die Frau noch einmal, »aber die sind nicht so hübsch. Ich versuch’ das Haus so sauber zu halten wie möglich. Vorschriften gibt’s nur’n paar: keine laute Musik nach Mitternacht, nicht im Bett rauchen, ich will nämlich nicht, daß die Bude abbrennt, und weder Alkohol noch Drogen im Treppenhaus. Was Sie in Ihrem Zimmer machen, ist mir egal, obwohl Sie wissen sollten, daß das hier kein Puff ist. Sie
wissen schon, eben kein Bordell. Sie können natürlich Männer
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