Lebenslang Ist Nicht Genug
mindestens fünf Jahre alt, aber tadellos gepflegt. Die Sitze waren pompös mit weinrotem Samt überzogen. Weder zerknüllte Tempotaschentücher noch Kaugummipapier lagen auf dem Boden, ganz im Gegensatz zu ihrem Auto. Gail ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Ein Junge und sein Auto, dachte sie, als er die Zündung einschaltete und mühelos den Wagen in Gang setzte.
»Flotter Schlitten, was?« meinte der Junge stolz.
Gail verwünschte ihr Auto, das auf dem Parkplatz festsaß. »Ist auch gut in Schuß. Muß’ne Menge Arbeit kosten.«
»Hmhm. Ist eben mein Hobby, die Karre.«
»Sie haben Glück, daß man Ihnen keinen Strafzettel verpaßt hat«, sagte sie, als er sich in den Verkehr einfädelte. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen?
»Hier schreibt nie jemand auf. Ich parke immer an der Stelle.«
»Kommen Sie oft her?« Er nickte. »Gehen Sie nicht zur Schule?«
»Manchmal.« Er lächelte. »Sind Sie vom Schulamt?«
»Nein. Hattet ihr Angst, ich würde nach Schulschwänzern suchen?«
»Wär’ ja immerhin möglich. Dachten Sie, Ihr Sohn wär’ in dem Laden?«
»Haben Sie mich deshalb mitgenommen? Weil Sie rauskriegen wollten, was ich mache?«
»Nein, mir ist völlig egal, was Sie tun. Ich wollte bloß nicht, daß Sie sich einen abfrieren bei der Kälte.«
»Sie haben sich wirklich Sorgen um mich gemacht?« Gail lachte. Sie hätte gern gewußt, wo er hinfuhr.
»Na ja, Sie sehn nicht gerade so aus, wie man sich’n Tramper vorstellt. Ich meine... ach, Sie wissen schon, was ich meine.«
»Daß ich zu alt bin?« Gail merkte überrascht, daß ihr die Unterhaltung Spaß machte.
»Nicht direkt alt, eben älter. Sie sehen aus, als hätten Sie Kinder.«
»Hab’ ich auch. Aber nur Töchter.« Sie berichtigte ihren Versprecher nicht.
»Ach, ich weiß, Mädchen sind viel leichter zu erziehen. Jedenfalls hält meine Mutter mir das ständig vor.«
»Sie wäre sicher nicht erbaut davon, wenn sie wüßte, daß Sie heute nachmittag die Schule schwänzen.«
»Da haben Sie recht.« Als er um die nächste Ecke bog, fragte Gail sich wieder, wo er wohl hinfuhr. Sie hatte unterwegs nicht auf die Straßenschilder geachtet und wußte nicht mehr, wo sie sich befanden. Doch das beunruhigte sie nur flüchtig.
»Wie kommen Sie auf die Idee zu trampen?« fragte er.
»Mein Wagen ist nicht angesprungen.«
»Hab’ ich’s doch gewußt, daß Sie das nicht regelmäßig machen. Sie wirken irgendwie unnatürlich.« Seine Stimme bekam einen fast väterlichen Ton, was Gail amüsierte.
»Sie sollten sich wirklich in acht nehmen. Es gibt’ne Menge Verrückte auf unseren Straßen. Man kann nie wissen, mit wem man sich einläßt. Eine Freundin von mir hat mal beim Trampen’nen Typ erwischt, der sie auf die Fahrerseite rüberwinkte und ihr erklärte, sie müsse da einsteigen, weil die Tür zum Beifahrersitz klemmt. Mensch, da hat sie aber gemacht, daß sie wegkam, weil sie nämlich gleich kapiert hat, was läuft. Der Typ hatte den Wagen präpariert, war Absicht, daß die Tür nicht aufging. Wenn sie eingestiegen wäre, hätte sie in der Falle gesessen.« Er atmete hörbar aus. »Bei dem Mädchen hatte er Pech, die hat jede Menge Erfahrung mit’m Trampen, die kennt sich aus, ist echt auf
Draht.« Prüfend betrachtete er Gail von der Seite. »Sie sehen nicht so aus, als würden Sie jeden Trick durchschaun.«
Den Rest der Fahrt legten sie schweigend zurück.
»Danke fürs Mitnehmen«, sagte sie, als er anhielt und sie aussteigen ließ.
»Hören Sie auf zu trampen.«
»Hören Sie mit dem Schuleschwänzen auf.«
Sie blieb am Straßenrand stehen und sah seinem Wagen nach. Wo war sie? Und was sollte sie jetzt tun? Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Es war spät geworden. Jennifer würde schon von der Schule zurück sein. Wie sollte sie ihr erklären, wo sie gewesen war und warum sie in diesem Aufzug herumlief? Sie schaute an ihrer ausgebeulten Hose hinunter, betrachtete die alte, abgetragene Bluse, die der dünne graue Wickelmantel kaum verdeckte. Sie hatte ihn neulich bei der Heilsarmee erstanden. Jennifer würde sich bestimmt darüber wundern und ihr unangenehme Fragen stellen.
Was soll’s, dachte sie, bis mich jemand mitnimmt, hab’ ich noch genug Zeit, mir eine Ausrede zu überlegen. Sie wartete, bis der Wagen des Jungen außer Sicht war, ehe sie einen Fuß auf die Fahrbahn stellte, den rechten Arm hob und zögernd den Daumen reckte. Es dauerte fast zehn Minuten, bis ein Auto hielt. Der Fahrer, ein gutgekleideter Mann
Weitere Kostenlose Bücher