Lebenslang Ist Nicht Genug
gab, nirgends. Ein Ort war wie der andere. Damals hatte sie alles ringsum als friedlich und heiter empfunden, wenn sie Arm in Arm mit Jack durch diese Straßen spaziert war, doch nun störten sie jedes laute Hupen und jeder defekte Auspuff. Die einst so liebliche Brise peitschte jetzt ihre Wangen. Sie sehnte sich nach der Geborgenheit ihres Zimmers, traute sich aber nicht, Jack zu sagen, daß sie lieber ins Haus ginge.
Als sie sich zu dem Ausflug hatte überreden lassen, war ihr die Fahrt von Livingston hierher angenehm vorgekommen. Die Sonne schien, und der Wetterbericht versprach ein paar relativ milde Tage. Die Verkehrsverhältnisse waren passabel. Sie sahen unterwegs zwar zwei Unfälle, aber beide waren nicht schwerwiegend. Blitzartig war ihr angesichts eines Auffahrunfalls die Frage durch den Kopf geschossen, wie es wohl sei, wenn einen von hinten unerwartet ein Auto ramme. Was wäre es für ein Gefühl, den eigenen Körper explodieren zu sehen, während ein Auto sich hindurchfraß? Ob sie überhaupt etwas dabei empfinden würde?
Jack zog unterwegs immer wieder seine neue Karte zu Rate (»Wo sind bloß all meine Straßenkarten geblieben?« hatte er vor der Abfahrt gefragt und an der ersten Tankstelle, die sie passierten, eine neue gekauft), obgleich er den Weg genau kannte und Cape Cod wahrscheinlich sogar mit verbundenen Augen gefunden hätte.
Gail überlegte, wie Jennifer wohl mit Mark und seiner Frau zurechtkommen würde. Ob Julie sie erwartete, wenn Jennifer heute von der Schule zurückkam? Würde sie Jennifer Montag früh zeitig genug wecken oder nur daran denken, selbst pünktlich zur Arbeit zu kommen? Julie arbeitete als Sekretärin bei einem
Wirtschaftsprüfer. Würde sie abends noch die Zeit und die Kraft haben, sich um einen launischen Teenager zu kümmern? Jennifer liebte ihren Vater zwar abgöttisch, aber würde er streng genug sein, ihre Hausaufgaben zu überwachen und darauf zu achten, daß sie genug Schlaf bekam? Würde er dafür sorgen, daß Gails Ausgangsverbot für Jennifer und Eddie eingehalten wurde?
Während der langen Autofahrt war Gail öfter versucht gewesen, Jack zum Umkehren zu bewegen, hatte sich aber jedesmal daran erinnert, daß sie schließlich schon Montag abend wieder zu Hause sein würden und Jennifer für ein paar Tage bestimmt sehr gut ohne sie zurechtkäme. Wahrscheinlich sogar besser, dachte sie, wenn man bedenkt, wie oft wir uns in letzter Zeit gestritten haben.
Gail war sich darüber klar, wie wichtig die kommenden Tage für sie und Jack sein würden. Er hatte recht - sie brauchten ein wenig Zeit für sich allein. Sie entfernten sich mit jedem Tag weiter voneinander. Jeder zog sich in sein Schneckenhaus zurück, um nur ja keine offene Auseinandersetzung zu provozieren, blieb mit seinem Zorn und seinen Schuldgefühlen allein, statt sich dem Partner zu stellen. Sie scheuten davor zurück, ihre Probleme offen miteinander zu diskutieren.
Gail wußte, daß Jack nicht dafür verantwortlich war. Er hatte mehrmals den Versuch gemacht, sie aus der Reserve zu locken. Anfangs hatte sie sich noch bemüht, ihm entgegenzukommen, aber sosehr sie seine Stärke früher auch bewundert und darauf gebaut hatte, jetzt verübelte sie ihm auf einmal diese Kraft. Obwohl sie es gewesen war, die darauf gedrängt hatte, daß die Familie ihr gewohntes Leben so rasch wie möglich fortsetzte, mißgönnte sie Jack die Fähigkeit, sich derart leicht wieder im Alltag zurechtzufinden.
Hör auf damit, befahl sie sich, denn sie wußte wohl, daß sie ihrem Mann gegenüber unfair war. Sie hatte keinen Grund, Jack böse zu sein (und auch Jennifer nicht), nur weil es den beiden irgendwie
gelungen war, sich mit dem Unglück abzufinden. Wenn jemand Grund hatte, zu klagen und Vorhaltungen zu machen, dann war es Jack, nicht sie. Wie schafft er es nur, mir keinen Vorwurf zu machen? wunderte sie sich.
Er mußte ihr doch die Schuld geben; er mußte doch jedesmal, wenn er sie ansah, daran denken, daß Cindy noch leben würde, wenn Gail an jenem letzten Aprilnachmittag zu Hause geblieben wäre. Wenn ihre Blicke sich trafen, las sie jedesmal unbewußten Widerwillen in seinen Augen, und immer wenn sie versuchte, die Hand nach ihm auszustrecken, stieg der Groll - gegen was nur? - in ihr auf und hielt sie zurück.
Gail sah ihren Mann von der Seite an, während sie Hand in Hand die Straße entlanggingen. Jack schien ganz versunken in den Anblick der Schindelhäuser rechts und links vom Weg. Aber nahm er sie wirklich
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