Lebenslang
verschwinden?«
»Technisch gesehen, sehr einfach«, sagte Thomas. »Ich werfe meinen Ausweis weg, beantrage keine Sozialhilfe und lebe irgendwo tief im Wald oder auf der Straße. Solange ich keine Ansprüche geltend mache, Hartz IV oder Wohngeld beantrage, ist das kein Problem.«
»Also dreht sich alles einzig und allein um den Lebensunterhalt.«
»Wenn ich meine Bedürftigkeit durch einen amtlichen Bescheid nicht nachweisen kann, werde ich zum Beispiel auch keine Lebensmittel bei einer Tafel erhalten. Es gibt nur sehr wenige Einrichtungen, die nicht fragen, wer man ist, und trotzdem helfen.«
»Gut, gehen wir trotzdem davon aus, dass er einen Weg gefunden hat, da draußen zwanzig Jahre zu überleben, ohne dabei irgendwelche Spuren zu hinterlassen.«
»Aber warum sollte Florian Steilberg diesen Weg wählen?«
»Du hast mir neulich gesagt, dass du ein Kind hast.«
»Ja, eine Tochter«, sagte Thomas.
»Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?«, fragte Yvonne.
»Das ist jetzt sechs Jahre her. Meine Exfrau hat es geschafft, dass Charlotte und ich uns entfremdet haben. Wobei ich aber zugeben muss, dass ich in unseren gemeinsamen Jahren auch nicht unbedingt zu einem Vater getaugt habe.«
»Was würdest du tun, wenn jemand deiner Tochter etwas zuleide tun würde?«
»Ich würde ihn mit meinen bloßen Händen umbringen«, sagte Thomas, als läge die Antwort auf der Hand
»Aber es würde dir nicht so ohne Weiteres gelingen«, sagte Yvonne. »Immerhin säße der Mörder deines Kindes im Knast, wo er in relativer Sicherheit vor dir wäre. Du müsstest also warten, bis er entlassen wird.«
»Aber die Polizei würde dafür sorgen, dass ich auch dann den nötigen Abstand zu ihm einhalte. Wenn du verstehst, was ich meine.«
»Richtig«, sagte Yvonne. »Es sei denn, sie hätte dich schon längst nicht mehr auf dem Zettel.«
»Weil ich seit zwanzig Jahren verschwunden wäre, man mich sogar vielleicht schon für tot erklärt hätte …«
Ein Lastkahn zog träge flussabwärts den Main hinunter. Die Fahne am Heck bewegte sich nicht, sodass Yvonne nicht erkennen konnte, wo er seinen Heimathafen hatte.
»Könntest du herausfinden, wo dieser Wieland eingebuchtet ist und wann er entlassen wird?«, fragte Thomas.
»Ich könnte Schumacher fragen, aber ich bin mir sicher, dass er mir keine Auskunft geben wird«, sagte Yvonne. »Steilberg dürfte im Übrigen dasselbe Problem haben wie wir. Er wird also dieselben Quellen wie wir nutzen müssen. Exknackis.«
»Hermann hat gute Kontakte«, sagte Thomas. »Und ich kenne auch noch den einen oder anderen, der erst vor Kurzem aus dem Bau gekommen ist.«
Yvonne ergriff seine Hand, verschränkte ihre Finger mit seinen und schaute hinaus auf den Fluss.
»Danke«, sagte sie.
»Wofür?«
»Einfach so.«
Thomas ließ ihre Hand los und legte seinen Arm um ihre Schulter. Er roch gut. Sie legte ihre Hand auf sein Bein und kratzte leise mit ihren Fingernägeln über den Stoff seiner Hose. Eine Familie radelte an ihnen vorüber. Vater, Mutter und zwei Kinder, von denen das jüngste unsicher auf seinem Puky eierte. Alle trugen einen Helm.
Thomas schaute auf seine Uhr. »Ich muss los. In einer Dreiviertelstunde fängt mein Dienst an.«
»Ich bleibe noch hier.«
Thomas stand auf. »Wie kommst du nach Hause?«
»Mit der S-Bahn«, sagte Yvonne und klopfte auf ihre Handtasche. »Ich habe alles dabei, um mich nicht zu verlaufen.«
Thomas küsste Yvonne vorsichtig auf den Mund. »Wir sehen uns morgen?«
»In jedem Fall.«
Yvonne schaute Thomas so lange nach, bis er inmitten der Schatten des Parks verschwunden war. Dann stand sie auf und machte sich auf den Weg.
Ihre Erinnerungen an die Zeit vor zwanzig Jahren, als sie zusammen mit Schumacher im Mordfall Steilberg ermittelt hatte, waren nicht wiedergekehrt. Zwar hatte sich ein bestimmtes Gefühl der Vertrautheit bei ihr eingestellt, als sie und Thomas zu jenem Haus gefahren waren, in dem die Familie damals gelebt hatte. Mehr aber war es nicht, und sie wusste nicht, ob sie diesen Umstand bedauern oder begrüßen sollte. Nach allem, was sie herausgefunden hatte, musste es eine sehr schwere Zeit für alle gewesen sein. Auch für sie.
Aber als sie zusammen mit Thomas am Mainufer gesessen hatte, war ihr eine Idee gekommen. Eine Idee, die sie vielleicht zu Julias Vater führen würde.
Steinheim hatte zwei Friedhöfe, einen im Süden und einen im Norden. Der Südfriedhof war klein, und sie hatte die Gräber relativ schnell überprüft.
Der
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