Lebenslang
Nordfriedhof war größer. Und er hatte einen besonderen Teil, auf dem die Kinder begraben wurden. Ein gutes Dutzend Grabsteine, manche von ihnen mit Fotos versehen, zeugten von Leben, die viel zu rasch beendet worden waren. Über die Umstände des Todes erfuhr man nichts. Keiner der Grabsteine wies einen Spruch auf. Doch alle Gräber, so alt sie auch sein mochten, waren liebevoll gepflegt. In ihren Erinnerungen würde die Tochter oder der Sohn immer vier, acht, zehn Jahre sein, obwohl viele jetzt erwachsen wären.
Das Grab von Julia Steilberg lag ein kleines Stück abseits unter einem Baum. Der Stein war aus schlichtem polierten Granit, auf dem der Name, das Geburtsdatum und das Sterbedatum eingraviert worden waren. Das Grab selber war liebevoll mit weißen Rosen bepflanzt. Einige der Blüten waren prachtvoll geöffnet, andere noch halb geschlossen. Keine war verwelkt.
Das Wetter war gegen Abend hin schön geworden. Die Sonne schien. Yvonne setzte sich auf die Umfassung und strich mit der Hand über den glänzend schwarzen Stein.
Es war ein friedlicher Ort, der durch die weitläufigen Rasenflächen und den alten Baumbestand eher an einen Park erinnerte. Gottesacker, kam es ihr plötzlich in den Sinn. Als wären die hier begrabenen Toten Samen, aus denen wunderbare Pflanzen erwuchsen. Was für einen Sinn hatte das Leben dieses Mädchens gehabt, das ein so rasches, gewalttätiges Ende gefunden hatte?
Yvonne beugte sich hinab zu einer der Rosen, um an ihr zu riechen. Sie sah gut aus, war formvollendet gewachsen, mit einer Blüte, die sich perfekt entfaltet hatte. Aber sie war ohne Duft. Wie ein ungehaltenes Versprechen.
Yvonne stand auf, ging ein Stück des Weges zurück und setzte sich auf eine Bank in die untergehende Sonne. Der Friedhof war so gut wie verlassen, nur eine alte, gebückte Frau, die trotz der Wärme zwei Strickjacken übereinandertrug, schlurfte zum Wasserhahn, um ihre Gießkanne wieder an einen Haken zu hängen. Sie grüßte knapp, als sie Yvonne sah, und Yvonne grüßte zurück. Obwohl sie vielleicht dreißig Jahre trennen mochten, hatten sie etwas gemeinsam. Beide wussten, dass der Tod nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Dennoch verspürte Yvonne keine Verbundenheit mit der alten Frau, deren Zeit auch bald kommen würde. Yvonne mochte vielleicht auch an der Schwelle zum Tode stehen. Aber ihr Leben war noch nicht zu Ende gelebt. Ohne diese Kugel im Kopf, die in den letzten Wochen eine tödliche Bösartigkeit entwickelt hatte, hätte sie vielleicht noch einige gute Jahre. Sie musste an Thomas denken.
In der letzten Zeit dachte sie erstaunlich oft an ihn, und wenn sie das tat, spürte sie eine Wärme, die sie schon lange nicht mehr erfüllt hatte. Auf einmal stellte sie fest, dass sie leben wollte. Jahrelang hatte sie sich wie ein Mensch gefühlt, den der Tod einfach übersehen hatte. Die Zeit, die ihr dadurch geschenkt worden war, hatte sie allerdings nicht als Segen empfunden, sondern als Last, die sie nur deswegen nicht abgeworfen hatte, weil sie nicht die Kraft dazu fand. Nun wurde ihr die Entscheidung abgenommen. Der Abszess in ihrem Hirn wuchs unaufhaltsam. Bald würde es zu den ersten Ausfallserscheinungen kommen, und sie fragte sich, ob sie zuerst erblinden, ertauben oder verstummen würde. Vielleicht traten ja auch Lähmungen auf.
Nein, so wollte sie nicht sterben, nicht so. Wenn sie ihr Leben durch eigene Hand beenden wollte, dann sollte sie diesen Entschluss recht zügig in die Tat umsetzen. Doch sie zögerte. Auf einmal war die Vorstellung, nicht mehr zu existieren, kein Bewusstsein mehr zu haben, sich selbst zu vergessen, überhaupt nicht mehr reizvoll. Sie war in Thomas verliebt. Es war eine fast schon banale Erkenntnis, doch sie änderte alles.
Yvonne sah auf ihr Handy. Es war kurz vor acht, bald würde der Friedhof schließen. Sie stand auf und warf einen letzten Blick hinüber zu Julias Grab, als sie erstarrte.
Ein Mann hatte sich dort niedergekniet und schien mit jemandem zu sprechen, denn die Hände bewegten sich in kleinen, unterstreichenden Gesten. Er hatte Yvonne den Rücken zugekehrt, aber sie erkannte ihn sofort: Es war der Mann, den sie in der Notfallambulanz gesehen hatte.
Yvonne war froh, etwas abseits gesessen zu haben, denn sonst wäre sie entdeckt worden. Vorsichtig stand sie auf und versteckte sich hinter dem Stamm einer großen Buche. Verdammt, was sollte sie jetzt tun? Einfach hingehen und ihn ansprechen kam nicht infrage. Sie versuchte Thomas
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