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Lebenslauf zweiter Absatz

Lebenslauf zweiter Absatz

Titel: Lebenslauf zweiter Absatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
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Kofferraum, sagte ich, hinten, gut verpackt. Zuerst sagte sie: Weiß nich! dann sagte sie: Glaub nich! dann sagte sie: Kannst Tante auch sagen, wenn du vergessen hast! Es ist alles im Wagen! rief ich, zu laut, ein Gestell ist auch da, mit Bildern, glaub ich.
    Aber weißt nich! sagte Tante Schmidt.
    Liebe Frau Schmidt, ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nicht, was Sie bei sich führen. Schirme und Äpfel weiß ich. Aber Bilder weiß ich nicht.
    Ich will das Bild, Siegfried! schrie die alte Dame.
    Zwei Meter vorm letzten Grenzpfahl rechts ran und schon der Warnruf eines Jungen mit Eisenhut: Halten da ist nicht gestattet.
    Not kennt kein Halteverbot! rief ich zurück und setzte noch hinzu: Ich handle unter Zwang, Genossen.
    Nach einem Blick auf die kleine Frau Schmidt entschloß sich der schwer Behütete, und auch sein Kamerad, doch lieber nach dem Feind zu spähn.
    Daß sie nicht glauben, ich hätte nicht gesehen, wie sie wiederholt von gesellschaftlicher Wachsamkeit abließen zugunsten persönlicher Neugier. Und was sie dabei betrachtet haben, weiß ich auch: einen Menschen, der am Rande ostwestlicher Transitstraße einen Kofferraum entlud, ein Behältnis aus Brettern erbrach, papierene Hüllen aufriß, gerahmte Fotos von anderen gerahmten Fotos schied, mit einem Armvoll Bilder seiner Wahl an die rechte Vordertür seines Wagens eilte, um dort vor denAugen einer, wie es schien, ältlichen und, wie es schien, zarten Dame eine Art Exhibition in Gang zu setzen.
    Nicken im Silberhaar schon nach dem achten Griff, Marga ihr Großer also gefunden, Marga ihrn Großen wieder verpackt und auch all die anderen Lieben, Bilderbehältnis und Koffer neu verkeilt, Wagen erleichtert bestiegen und: anfahrn, schlau diesmal, abgefeimt schlau, gleich im zweiten Gange.
    Werst woll nich so ruckeln, sagte zu diesem Frau Schmidt.
    Aber geruckelt oder geglitten, gleichviel, geflogen sind wir so wohl an die fünfzig Meter.
    Wartha hinter uns, Herleshausen voraus; Wartha nicht mehr sichtbar, Herleshausen noch nicht in Sicht; es geht bergan um die Ecke dort, wo ist man hier? Ist man wirklich in niemandes Land, wenn man Schwarzrotgold mit Werkzeug hinter sich und Schwarzrotgold mit Greifvogel noch vor sich hat? Wem, wenn es sie gibt, gehört die langgezogene Parzelle zwischen Herrnburg und Hirschberg? Wäre sie noch zu haben?
    Gegen schweren Verdacht: Ich möchte sie nicht, hab ein geregeltes Zuhause.
    Aber so Sachen denken ist mein Beruf; dächt ich nur schon Geklärtes, müßte mein Lehrgeld zurück. Manchmal freilich ist, was ich denke, nur für mich noch nicht geklärt oder unnütz in fast jeder Hinsicht. Wozu – Exempel – war mir am Hang vor Herleshausen wichtig, wer wohl der Herr vom Pflaster sei, das ich befuhr? Ich könnte sagen: Es bleibt einer liegen auf dem Niemandsstreif, bricht sich die Beine, wer holt ihn dann?
    Ich kann auch sagen, von Erfahrung schwer: Ich blieb dort stehen zwischen Rand und Rand, weil MütterchenSchmidt just hier am Sterben sich wähnte. Werst woll jetzt halten müssen! sagte sie zu mir an eben jenem Punkt, wo Rückblick nicht mehr und Aussicht noch nicht zu haben sind: Werst woll jetzt halten müssen, mir ist so schwarz! Als ich dies erfuhr, wurde mir ähnlich, aber den Wagen setzte ich außer Kraft und parkte ihn wie eine sinkende Feder.
    Ich mach Ihnen Luft, Frau Schmidt, sagte ich und griff nach dem Fenster, aber sie sagte: Nee!
    Vielleicht ist es Hunger, sagte ich; ich hatte ein Brot, aber Frau Schmidt wollte es nicht.
    Im Wagen, unten, wo er nicht hingehört, unter Beuteln, Schachteln und Schüsselständer, hatte ich einen Kasten mit Salbe gegen Brand und Schienen für Brüche, doch gegen die Schwäche, welche von zweiundneunzig Jahren kommt, wußte ich nichts in ihm.
    Besser vielleicht, wir kehren um, Frau Schmidt.
    Bei die bin ich abjemeldt, sagte sie.
    Frau Schmidt, wir könnten auch weiterfahren.
    Bei die bin ich nich anjemeldt, sagte sie und: Wenn du mir rührst, geh ich doot.
    Beste Frau Schmidt, sprechen Sie nicht solche Dinge. Wenn Ihnen nicht gut ist, fragt keiner nach Papier.
    Hach, machte Frau Schmidt.
    Ein Laut wie von einem einzelnen Blatt und dabei doch laut wie Urteil über schlimmste Welt.
    Furcht kroch in mich, es könnte ihr Abschied gewesen sein; zu still lag sie am Polster, die Augen abgekehrt von allem Leben. Ich suchte ihren Puls, und sie sagte zu mir: Brauchst nich grabbeln, Siegfried, über neunzig raus is am Mensch nichts mehr. Ich erzählte ihr von einem zu Pferde im Kaukasus,

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