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Lebenslauf zweiter Absatz

Lebenslauf zweiter Absatz

Titel: Lebenslauf zweiter Absatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
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uns. Die Gewißheit, daß sie bei uns leihen konnten, war der Gewinn, den sie beim Verleihen machten.
    Damit, sagte mein Vater, war im Verkehr zwischen Frau Persokeit und uns nicht zu rechnen. Nie würde sie sich bei uns tausend Mark borgen wollen. So gab es keine Gegenseitigkeit. So gab es keinen Gewinn. So ging es nicht.
    Meine Mutter wandte ein, daß der Krämer, bei dem man borgte, indem man anschreiben ließ, nicht hoffen durfte, eines Tages bei uns anschreiben zu lassen. Also keine Gegenseitigkeit. Also kein Gewinn. Also was nun?
    Damit hatte mein Vater keine Not. Des Krämers Gewinn war, daß wir seine Kunden blieben. Es gab viele seiner Art, und er brauchte viele unserer Art. Er brauchte Umsatz, wir brauchten Kredit, die Gegenseitigkeit lag auf der Hand. Die Geldbeziehungen zu Frau Persokeit jedoch waren anderer Natur, sie hatten eine gewisse Notlage zur Voraussetzung. Mein Vater sagte, und man merkte ihm an, wie stolz er war, auf so schlüssigen Reim gekommen zu sein: Not kennt kein Zinsgebot.
    Wer dringend einen größeren Betrag brauchte und der Bank mit den Gründen dafür nicht kommen durfte, oder wer ihr nicht kommen durfte, weil an ihm nichts zu pfänden war, dem blieb Frau Persokeit. Und die ließ sich das bezahlen.
    Ich weiß nicht, ob man sagen kann, wir seien in einer Notlage gewesen, als wir von ihr das Darlehen nahmen. Es hat sich nur um eine einmalige Gelegenheit gehandelt, der Hölle zu entkommen. Die Hölle lag in der Kleinen Rheinstraße in Altona, in einem Kellerloch mit Küche.
    Die Kleine Rheinstraße liegt im Altonaer Stadtteil Ottensen,dort, wo Ottensen Mottenburg heißt, und sie ist gerade breit genug für die Straßenbahn. Durch die Kellerfenster sahen wir von der Bahn nicht mehr als die Räder, aber wir hörten alles von ihr. Wir wohnten an einer Ecke, und die Bahn kam nur durch die Kurve, wenn die Räder spanziehend durch die Schienen gingen, und ich glaube, die Wagen mußten sich auch noch krümmen. Alle fünf Minuten kreischte Metall über Metall, und Pflastersteine gaben die Schläge von Eisengestänge an uns weiter. Man hörte sogar das Gebrüll meines Bruders nicht, wenn sich die Bahn um unsere Kellerecke fräste.
    Der Fahrplan der Elektrischen bestimmte bis in unser Familienleben. Wir beeilten uns, einen Satz an sein Ende zu bringen, wenn sich mit einem kurzen Kreischton der lange Kreischton angekündigt hatte, und zum Sprechen und Hören verging uns auch das Sehen in unserer Höhle, denn die Bahn schob sich zwischen uns und die Ahnung von einem fernen Himmel über der Kleinen Rheinstraße. Es waren Weltuntergänge, denen wir immer nur knapp entkamen, aber mit jedem Entrinnen wuchs die Gewißheit, daß es uns eines nächsten Males verschlingen werde. Wir mußten fort aus der Kleinen Rheinstraße, und auch als heraus war, daß man sie Kleine Rainstraße schrieb, mußten wir fort. Weil sie vom Rain so wenig hatte wie vom Rhein. Rain ist ein anderes Wort für Ackergrenze, aber der nächstgelegene Acker begann hinter Lurup oder Iserbrook, und das waren schon andere Landesteile.
    Das spricht sich so hin: Wir mußten fort! Man sollte bedenken, daß niemand freiwillig in eine Höhle unter einer krummen kleinen Straße zieht, durch die alle fünf Minuten die städtische Tramway dröhnt. Wer so siedelt, hat Gründe. Er hat vermutlich nicht viel Geld.
    Wir hatten kaum Geld, und da konnte Wohnungswechsel nur den Wechsel in ein anderes Kellerloch bedeuten. Oder in einen Bodenverschlag mit Regenwolken als Nachbarn. Oder in einen Stollen unterm Bahndamm, wo die Tünche nicht trocknen will. Oder in zwei Kammern just in der Höhe vom Lüftungsaustritt der Abdeckerei. Oder ins Gängeviertel, wo die Räuber, so wird es erzählt, übers Plättbrett ins Nachbarhaus flüchten, wenn die Schandarmen kommen.
    Alles sei ihr recht, sagte meine Mutter, außer dem Höllenloch mit dem Höllendonner. Da brachte mein Vater das Haus in Osdorf-Nord zur Sprache. Es sei eine Gelegenheit, sagte er, und damit hatte er meine Mutter für eine Weile verloren. Mein Vater und die Gelegenheit, das war kein glückliches Paar.
    Aber das Haus war für tausend Mark zu haben. Für diese lächerliche Summe ein Haus! – Meine Mutter fand die Summe doppelt lächerlich. Weil man für solches Geld nicht nur kein Haus bekäme, sondern weil uns zu tausend Mark auch tausend Mark fehlten.
    Aber mein Vater wußte von einer Frau Persokeit, und wenn meine Mutter nichts von der Sache hören wollte, kam ihm die Straßenbahn dröhnend zu

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