Lebenslügen / Roman
blutroten Wein.
Der König der Fischer, krank und ausgezehrt, um ihn herum verödete das Land. Musste man den König wiederbeleben, um das Land zu retten, oder musste man ihn opfern? Sie erinnerte sich nicht. Blutopfer. Das war der Titel von Martina Applebys Gedichtband. Sie schrieb unter ihrem Mädchennamen, nicht dem unglückseligen »Mason«. Louise hatte sie gegoogelt und einen kleinen Artikel gefunden. Howard Mason hatte sie »seine Muse« genannt. Eine Weile zumindest. In einem kaum verhüllten Schlüsselroman war sie Ingegerd, »der schwermütige skandinavische Mühlstein um seinen Hals, der ihn unter Wasser zog«. Nicht gerade einfallsreich, unser Howard, wenn es um Metaphern ging. Jetzt war Martina vergriffen. Sie waren alle vergriffen. Jeder Einzelne von ihnen. Außer Joanna.
Sie ging auf Zehenspitzen durchs Haus, verzichtete darauf, Kaffee zu machen, weil es zu viel Lärm verursacht hätte.
Beeinträchtigt von ihrem Kater schaffte Louise die große Flucht nicht ganz. Als sie ihren Mantel zuknöpfte, wallte die gute alte Bridget herunter – in einem entzündlich orangefarbenen Morgenmantel aus Satin – und sagte, »Musst du schon zur Arbeit?«, und Louise sagte: »Die Bösen ruhen nicht, die Polizei auch nicht.«
»Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich um Patrick«, sagte Bridget, und Louise – die sich im Bruchteil einer Sekunde von der gesetzlich angetrauten Schwägerin zur Außenseiterin verwandelte – knurrte: »Ich mache mir keine Sorgen, er ist zweiundfünfzig, er kann sich um sich selbst kümmern.« Die Hündin hatte den Maulkorb durchgebissen.
Als Louise aus der unterirdischen Garage kam, hätte sie beinahe den Briefträger überfahren, der eine Eilsendung brachte, einen weiteren Band von Howard Masons Œuvre, den sie im Internet gefunden hatte. Sie unterschrieb, steckte ihn ins Handschuhfach und fuhr davon.
Diesmal ging sie nicht zur schicken Vordertür, sondern am Haus entlang zur Hintertür. Der Weg führte an der Garage vorbei, und durchs Fenster sah sie Dr. Hunters tugendhaften Prius, genau wie Reggie gesagt hatte. Am Dienstag hatte Louise auf der Straße geparkt und gewartet, bis Dr. Hunter von der Arbeit nach Hause kam. Sie hatte zugesehen, wie ihr Wagen auf die Einfahrt fuhr, wie sie ins Haus ging, und sich gefragt, wie es war, als Einzige davongekommen zu sein. (»Schuldig«, sagte Joanna Hunter, »ich fühle mich jeden Tag schuldig.«)
»Ich schon wieder«, sagte Louise fröhlich, als Neil Hunter die Tür öffnete. Er schien in jeder Beziehung noch aufgelöster als gestern.
»Wissen Sie, wie viel Uhr es ist?«
Louise blickte auf ihre Uhr und sagte, »Zehn vor sieben«, wie eine hilfsbereite Pfadfinderin. Früher Morgen – die beste Zeit, um Drogendealer, Terroristen und unschuldige Ehemänner von fürsorglichen Allgemeinärztinnen zu wecken. Louise hatte es bei den Pfadfinderinnen nicht weit gebracht, sie wurde mit sieben Jahren hinausgeworfen. Es war komisch, weil sie sich selbst für eine gute Mannschaftsspielerin hielt, auch wenn sie bisweilen argwöhnte, dass niemand sonst in ihrer Mannschaft so dachte. (»Nicht Mannschaftsspielerin, Mannschaftsführerin, Boss«, sagte Karen Warner diplomatisch.)
»Ich habe gesagt, dass ich wiederkommen würde«, sagte sie zu Neil Hunter, ganz Königin der Logik.
»Das haben Sie.« Er rieb sich die Bartstoppeln am Kinn und starrte sie einen Augenblick gedankenverloren an. Er schien in keiner guten Verfassung. Vielleicht war er einer der Männer, die eine Frau brauchten, um ihr Leben in Griff zu kriegen (von denen gab es eine ganze Menge).
»Vermutlich wollen Sie reinkommen«, sagte er. Er drückte sich gegen den Türrahmen, so dass sie sich an ihm vorbeiquetschen musste. Ein bisschen zu nahe an Louises Einzäunung. Er roch nach Alkohol und Zigaretten und sah aus, als wäre er die ganze Nacht auf gewesen, wirkte dennoch nicht ganz so unattraktiv, wie er es hätte sollen. Louise würde ihn nicht von der Bettkante stoßen. Das heißt, wenn sie nicht verheiratet wäre, wenn er nicht verheiratet wäre, und wenn es nicht die minimale Möglichkeit gäbe, dass er seine Frau um die Ecke gebracht hatte. Blödsinn, Louise.
»Wie ich gesehen habe, steht Dr. Hunters Wagen in der Garage«, sagte sie.
»Er ist kaputt, muss was mit der Elektronik zu tun haben. Ich bringe ihn morgen in die Werkstatt. Jo hat ein Auto gemietet, um nach Yorkshire zu fahren.«
»Ich habe mehrfach versucht, Dr. Hunter zu erreichen, aber sie
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