Lebenslügen / Roman
das Krankenhaus keine Akte über ihn hatte, als sie das erste Mal anrief, er war mit jemand anderem verwechselt worden. Wie Reggie hatte er gar nichts mehr. Reggie hatte jetzt zumindest eine Topshop-Tüte mit Kleidung. Und einen Hund.
»Ich dachte, Sie wären gestorben«, sagte sie zu ihm.
»Ich auch«, sagte er.
Reggie hatte den Hund in der Nähe des Taxistands friedlich auf der Grasfläche vor dem Krankenhaus liegen lassen. Auf ein Blatt Papier schrieb sie, Das ist kein streunender Hund, seine Besitzerin macht einen Besuch im Krankenhaus, sie steckte es unter sein Halsband für den Fall, dass jemand beschloss, den Tierschutzverein zu rufen. Wohin man auch ging, überall mussten »Hunde draußen bleiben«. Was sollte man tun? Es wäre vorteilhaft, wenn sie ein Blindenhundgeschirr hätte, das sie Sadie anlegen könnte. Dann könnte sie sie überallhin mitnehmen. Und, ein zusätzlicher Pluspunkt, die Leute hätten Mitleid mit dem armen, kleinen blinden Mädchen und wären besonders nett zu ihr.
»Braver Hund«, sagte Reggie zu Sadie, als sie ging, und der Hund antwortete mit einem leisen Winseln, und Reggie glaubte, es hieß: »Vergiss nicht, zurückzukommen.« Die Hundesprache war ziemlich einfach zu verstehen im Gegensatz zur Menschensprache. (Alles und nichts, dies und das, hier und da.)
Soweit sie es beurteilen konnte, war Jackson Brodie okay. Es wäre eine Schande, sollte sich herausstellen, dass sie einem schlechten Menschen das Leben gerettet hätte, wenn sie jemanden hätte retten können, der ein Mittel gegen Krebs erforschte oder die einzige Stütze einer großen, bedürftigen Familie war und womöglich ein behindertes Kind hatte.
Jackson Brodie hatte eine Frau und ein Kind, sie wären ihr demnach dankbar. War Jackson Brodies Frau auch Marlees Mutter? Es war merkwürdig, wie man eine andere Person zu sein schien, je nachdem, wem man zugeordnet wurde. Jackies Tochter. Billys Schwester. Dr. Hunters Haushaltshilfe.
Jackson Brodie wollte seine Frau nicht beunruhigen, indem er sie von dem Unglück benachrichtigte, was sehr altruistisch von ihm war. Das Wort des Tages. Aus dem Lateinischen, alteri huic, für den anderen. Seine Frau (»Tessa«) war »bei einer Konferenz in Washington«. Wie weltläufig das klang. Wahrscheinlich trug sie ein schwarzes Kostüm. Reggie dachte an die beiden schwarzen Kostüme von Dr. Hunter, die geduldig in ihrem Schrank hingen und darauf warteten, dass sie nach Hause kam und sie anzog. Wo war sie?
Die automatischen Krankenhaustüren öffneten sich zischend, und Reggie ging hinaus, blieb einen Augenblick stehen, um sich zu vergewissern, dass keine mit Loebs bewaffneten Vandalen auf sie warteten. Sie hatte Billy noch nicht erreicht, er war die am schwersten zu findende Person, die sie kannte. Obwohl es schien, als wollte Dr. Hunter es mit ihm aufnehmen.
Sadie sah Reggie, sobald sie aus dem Krankenhaus trat. Sie stand auf, spitzte die Ohren, wie sie es tat, wenn sie Wache halten musste. Reggie spürte so etwas wie ein Glücksgefühl in sich aufwallen. Es war gut, jemanden zu haben (wenn ein Hund jemand war), der sich freute, einen zu sehen. Sadie wedelte mit dem Schwanz. Hätte Reggie einen Schwanz gehabt, hätte sie auch damit gewedelt.
»Einen Freund besucht?«, fragte eine alte Dame in der Schlange für den 24er Bus vor dem Krankenhaus.
»Ja«, sagte Reggie. Er war nicht wirklich ein Freund, aber er würde einer werden. Eines Tages. Er gehörte jetzt ihr.
»Ich komme wieder«, hatte sie zu Jackson Brodie gesagt. »Ganz bestimmt«, hatte sie hinzugefügt. Reggie würde nie zu jemandem werden, der nicht wiederkam.
Sie hatte vergessen, ein Buch mitzunehmen, aber sie fand die verstümmelte Ilias in ihrer Tasche und las um das Loch in der Mitte herum. Der Anfang des Sechsten Gesangs war intakt, und sie kontrollierte ihre Übersetzung – Nestor anjetzt ermahnte mit lautem Ruf die Argeier: Freund’, ihr Helden des Danaerstamms, o Genossen des Ares! Lasst keinen zurück. Ziemlich gut.
Die Busfahrt wurde schicksalhaft gestört von einem Anruf von Wachtmeister Wiseman, der sie davon in Kenntnis setzte, dass Ms MacDonald noch nicht »verfügbar« sei. »Toxikologische Tests und so weiter«, sagte er vage.
»Wann glauben Sie denn, dass sie beerdigt werden kann?«, fragte Reggie.
Reggie überlegte, ob Ms MacDonald (ihre Tote), überhaupt beerdigt werden wollte. Wurmfutter oder Asche? Sie ist tot; wer immer stirbt, sich auflöst in die ersten Elemente. Das
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