Lebenslügen / Roman
mussten sie ihr Herz hören, ein lautes Trommeln im Schrank, bum, bum, bum. Jeden Moment musste einer von ihnen die Tür aufreißen, um die Lärmquelle zu finden. Reggie streckte die Finger und kraulte zum Trost das weiche Fell auf Sadies Kopf.
»Verdammt noch mal, ich tue mein Bestes«, sagte Mr. Hunter, und der Mann mit der Golduhr sagte: »Du weißt, wie es steht, Hunter. Du und die deinen. Denk drüber nach. Die nette kleine Frau, das süße kleine Baby. Willst du sie wiedersehen? Du bist dran. Was soll ich Anderson sagen?«
Sadie knurrte leise, beunruhigt von der Nähe von so viel widerlichem menschlichem Testosteron. Reggie duckte sich tiefer und legte die Arme um sie, um sie zu beruhigen. »Okay«, schrie Mr. Hunter, und plötzlich war er im Schlafzimmer, auf halber Strecke zum Schrank. Reggie meinte, ihr Herz würde explodieren, und sie würden es wie einen geplatzten Luftballon am Boden des Schranks finden. Er öffnete die Tür auf seiner Seite, riss aggressiv daran, und Reggie spürte, wie der ganze Schrank bebte. Er warf Sachen herum, suchte nach etwas und musste es gefunden haben, denn er ging wieder und die Männer folgten ihm nach unten. Reggie drückte das Gesicht an Sadies großen Körper und horchte auf ihren Herzschlag, fest und regelmäßig, ganz anders als ihr eigenes flatterndes Organ. Die Hintertür fiel ins Schloss, dann wurden die Motoren angelassen, und beide Wagen fuhren davon. Reggie raste zum Fenster und sah, wie Mr. Hunters Range Rover einem monströsen schwarzen Nissan nachfuhr. Sie wiederholte das Kennzeichen immer wieder, bis sie einen Block und einen Stift aus ihrer Tasche nehmen und es aufschreiben konnte.
Die Luft im Haus schien verschmutzt von dem Gespräch, das sie gerade gehört hatte. Einerseits war es sehr schlimm – der Mann mit der goldenen Uhr schien Dr. Hunter und das Baby entführt zu haben –, doch andererseits, und das war gut, waren sie nicht tot. Noch nicht.
Reggie stolperte beinahe über etwas, was auf dem Boden lag – Dr. Hunters teure Handtasche von Mulberry (Die Bayswater, Reggie – ist sie nicht schön?). Reggie hob sie auf und sagte zu Sadie: »Komm, wir müssen los.«
Reggie fuhr mit mehreren Bussen. Das Erlebnis in Dr. Hunters Haus hatte sie vorübergehend gegen Angst immunisiert, deswegen fuhr sie zu ihrer Wohnung in Gorgie. Der Akku ihres Handys war fast leer, und wenn schon nichts anderes, konnte sie zumindest das Ladegerät retten.
Sie saß oben, Dr. Hunters schwarze Bayswater auf dem Schoß, und überprüfte ihren Inhalt. Technisch natürlich Diebstahl, aber Reggie war der Ansicht, dass die normalen Regeln nicht mehr galten. Die nette kleine Frau, das süße kleine Baby. Willst du sie wiedersehen? Jedes Mal, wenn sie an diese Worte dachte, fühlte sich ihr Inneres wie ausgehöhlt an. Sie waren entführt worden, das war es. Goldene Uhren tragende Männer aus Glasgow forderten Lösegeld für sie. Warum? Wo? (Und was hatte die Tante damit zu tun?)
Der Inhalt der Tasche schien vollständig – Haarbürste, Minzbonbons, Papiertaschentücher, ein Päckchen mit Babywischtüchern, ein Exemplar von Das ist nicht mein Teddy, eine kleine Taschenlampe, ein Müsliriegel, das Asthmaspray, Antibabypillen, eine Puderdose von Chanel, Dr. Hunters Brille, die sie zum Autofahren brauchte, ihre Geldbörse und – zum Platzen voll – ihr Filofax.
Musste Kommissarin Monroe ihr jetzt nicht glauben? Dr. Hunter würde ohne ihre Brille, ihre Geldbörse, ihr Asthmaspray (das Ersatzspray stand auf dem Nachttisch) nicht wegfahren. Keine Tante konnte so krank sein, dass man alles zurückließ. Das Einzige, was fehlte, war ihr Handy, aber das machte nichts, weil im Filofax die Adresse einer »Agnes Barker« in Hawes stand. Die mysteriöse Tante Agnes war endlich gefunden.
Reggie stieg aus dem Bus aus und ging um die Ecke, wo die nur allzu vertrauten Visitenkarten einer Katastrophe auf sie warteten – drei Feuerwehrautos, ein Krankenwagen, zwei Streifenwagen, irgendeine Art Unfallwagen und eine Schar Zuschauer –, alle auf der Straße vor ihrem Haus. Reggie wurde bang ums Herz, es schien unvermeidlich, dass sie wegen ihr da waren.
Alle Fensterscheiben ihrer Wohnung waren geborsten, und schwarze Rußstreifen verschmierten die Mauern, wo Flammen aus dem Wohnzimmer geschossen war. In der Luft hing ein schrecklicher Gestank. Ein dicker Schlauch schlängelte sich wie eine Boa constrictor in den Hof. Die Sanitäter lehnten lässig am Krankenwagen,
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