Lebenslügen / Roman
sagte ihr Vater, aber ihre Mutter sagte: Das ist nicht möglich. Vor allem nicht für ein Mädchen. Hatten sie diese Dinge wirklich gesagt? Erfand sie sie, um die Lücken zu füllen, so wie sie sich eine Jessica vorstellte (lächerlich, ein Tagtraum, von dem sie niemandem erzählte), die in der Gegenwart lebte, in einem Paralleluniversum in den Cotswolds, in einem alten Haus mit einer Glyzinie an der Mauer. Vier Kinder, Regierungsberaterin für Dritte-Welt-Politik. Streitbar. Mutig. Verlässlich. Und ihre Mutter lebte irgendwo in blendendem Sonnenschein, malte wie eine Verrückte, die exzentrische englische Künstlerin.
Natürlich alles nur erfunden. Sie konnte sich nicht mehr wirklich an sie erinnern, aber das hielt sie nicht davon ab, eine Realität zu besitzen, die stärker als alles Lebende war, abgesehen von dem Baby selbstverständlich. Sie waren der Maßstab, an dem alles gemessen wurde, und die Vorbilder, an die nichts heranreichte. Abgesehen von dem Baby.
Sie war beraubt, ihr ganzes Leben war ein Akt der Beraubung, sie sehnte sich nach etwas, an das sie sich nicht mehr erinnerte. Manchmal hörte sie nachts in ihren Träumen den alten Hund bellen, und das brachte die Erinnerung an einen so unerträglichen Schmerz mit sich, dass sie sich bisweilen überlegte, erst das Baby und dann sich selbst zu töten, sie beide hinübergleiten zu lassen mit etwas so Friedvollem wie Opium, so dass ihm nie etwas Grässliches zustoßen konnte. Ein Notfallplan für den Fall, dass sie mit dem Rücken zur Wand stand, dass sie nicht davonlaufen konnte. Eine Hungersnot oder ein Atomkrieg. Ein Vulkanausbruch oder ein Komet, der auf die Erde fiel. Wenn sie in ein Konzentrationslager musste. Oder von bösen Psychopathen entführt wurde. Wenn es keine Spritzen gab, wenn es keine andere Möglichkeit gab, würde sie dem Baby die Hand aufs Gesicht legen und sich selbst erhängen. Einen Weg, sich zu erhängen, fand man immer. Manchmal brauchte man dafür große Selbstdisziplin. Elsie Marley ist jetzt so fein, nie mehr füttert sie das Schwein.
Wenn sie könnte, würde sie laufen, sie würde mit dem Baby davonlaufen, schnell wie der Wind, bis sie in Sicherheit war. Sie hörte Schritte, die die Treppe heraufkamen und drückte das Baby an sich. Der böse Mann kam.
Reggie Chase, jungfräuliche Kriegerin
S ie hatte Kriminalhauptkommissarin Monroe bislang dreimal angerufen, und niemand hatte sich gemeldet. Wenn sie Dr. Hunters Handy anrief, klingelte es nicht mehr, sondern eine Stimme vom Band setzte Reggie davon in Kenntnis, dass der Teilnehmer derzeit nicht erreichbar war. Vielleicht war der Akku leer, er musste mittlerweile angeschlagen, wenn nicht tot sein. Der dünne Faden, der Reggie mit Dr. Hunter verband, war gerissen. Dr. Hunters Rettungsleine. Auch Reggies.
W enn Reggie Dr. Hunters Handy in die Hände bekäme, dann könnte sie die sogenannte Tante im »Telefonbuch« nachschlagen. Sie könnte die Tante anrufen und bitten, mit Dr. Hunter sprechen zu dürfen. Und dann würde Dr. Hunter sich melden, und Reggie würde – ganz beiläufig – sagen: »Hallo, ich wollte nur fragen, wann Sie zurückkommen. Hier ist alles in Ordnung. Sadie lässt grüßen.« Und Dr. Hunter würde sagen: Vielen Dank, dass du angerufen hast, Reggie. Du fehlst uns beiden. Und dann wäre die Welt wieder in Ordnung.
Sie musste nur ins Haus und das Handy finden. Und wenn Mr. Hunter zurückkäme, könnte sie immer sagen, dass sie etwas vergessen hätte, ein Buch, eine Haarbürste, einen Schlüssel. Sie würde nicht einbrechen, technisch gesprochen, konnte man nicht einbrechen, wenn man den Schlüssel hatte, oder? Sie musste wissen, dass es Dr. Hunter gutging.
Sie stieg in der Blackford Avenue aus dem Bus und kaufte eine Tüte Chips in den Avenue Stores, bevor sie den Rest des Weges zu Dr. Hunters Haus ging. Die Chips schmeckten nach Käse und Zwiebeln, und kaum hatte sie sie probiert, musste sie die Tüte wegstecken, weil die Chips sie zu sehr an die Nacht des Zugunglücks erinnerten, daran, wie sie in Jackson Brodies luftlose Lungen geatmet und ihn ins Leben zurückgeholt hatte.
Der Range Rover war nicht zu sehen, was hieß, dass Mr. Hunter nicht zu Hause war, da sich der eine nie ohne den anderen fortbewegte. Reggie duckte sich in die Büsche und spähte zum Haus, um sich zu vergewissern, dass wirklich niemand da war. Vielleicht hätte sie Billy mitnehmen sollen, dieses eine Mal wären seine Talente als geborener Anschleicher nützlich
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