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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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gewesen. Auch Billy meldete sich nicht am Telefon. Wozu waren Telefone gut, wenn nie jemand ranging?
    Sadie winselte beim Anblick des Hauses leise vor Heimweh, und Reggie kraulte ihr die Ohren und sagte, »Ich weiß, altes Mädchen. Ich weiß«, wie Dr. Hunter es getan hätte.
    Als sie nach dem Schlüssel kramte, berührten Reggies Finger das schmutzige Stück Decke, das in ihrer Tasche lag. Ein kleines grünes Fähnchen der Not, das sie deuten sollte, eine Fährte, der nachzugehen war, eine Brotkrümelspur, die zu verfolgen war. Wie traurig das Baby sein musste, weil es seinen Talisman verloren hatte. Wie traurig sie war, weil sie das Baby verloren hatte.
    »Okay«, flüsterte sie Sadie zu, und der Hund sah sie fragend an. »Gehen wir.«
     
    Erst der Zapfenschlüssel, dann der Sicherheitsschlüssel, so weit, so gut. Im Flur blieb sie einen Augenblick stehen, um zu überprüfen, dass die Luft rein war, während Sadie die Treppe hinaufstürmte auf der Suche nach Dr. Hunter, doch Reggie war es sonnenklar, dass weder Dr. Hunter noch das Baby hier waren. Im Haus atmete niemand, es war still wie ein Grab. Tote Luft. Sogar die Uhren waren stehengeblieben, weil niemand sich die Mühe machte, sie aufzuziehen. Die Abwesenheit Dr. Hunters in ihrem eigenen Haus lastete schwer auf Reggies Herzen.
    Die Küche war jetzt unaufgeräumter, obwohl nichts darauf hinwies, dass Mr. Hunter gekocht hatte. Auf dem Tisch befanden sich die Überreste einer Pizza und eine Menge schmutziger Gläser, die er nicht in die Geschirrspülmaschine gestellt hatte. Der Kühlschrank war noch gefüllt mit denselben Lebensmitteln, die schon am Mittwoch darin gewesen waren. Die Bananen in der Obstschale waren jetzt schwarz, und die Äpfel begannen zu verschrumpeln. In einer Ecke hing eine große Spinnwebe an der Decke.
    Es war, als würde sich die Zeit in Dr. Hunters Abwesenheit beschleunigen. Wie lange würde es dauern, bis das Haus in seinen Urzustand zurückkehrte? Bis es ganz verschwand und Wiese und Wald Platz machte?
    Reggie suchte überall in der Küche nach dem Handy – in der Tischschublade, in allen Schränken, im Kühlschrank, im Backofen, aber sie fand es nicht. Sie fragte sich, wo sie noch suchen könnte, als sie hörte, wie der Range Rover mit gewohnt brutaler Geschwindigkeit und dramatischem Finish vorfuhr. Ihm folgte ein ebenso aggressiv klingender zweiter Wagen.
    Autotüren wurden zugeschlagen, und auf dem Kiesweg neben dem Haus knirschten schwere Schritte – sie gingen zur Hintertür, zur Küche. Reggie rannte die Treppe hinauf, wie ein Spülküchenmädchen, das mit der Hand in der Keksdose erwischt worden war, und in Dr. Hunters Schlafzimmer, wo ihre Verbrechergefährtin schlafend auf dem Bett lag. Sadie erwachte, als Reggie hereingelaufen kam, und bellte leise, aber aufgeregt. Reggie sprang aufs Bett und schloss die Hand um die Schnauze des Hundes. In dieser Art von Stress konnte man an einem Herzinfarkt sterben.
    Sie hörte Stimmen von unten, jetzt im Flur. Mr. Hunter und zwei andere Männer, die laut sprachen. Sie verstand nicht, was sie sagten, aber sie kamen näher, sie waren nicht mehr im Flur, sie waren auf der Treppe. Unter diesen Umständen konnte man definitiv an einem Herzinfarkt sterben. Reggie packte Sadies Halsband und zerrte daran. »Komm«, flüsterte sie verzweifelt. »Wir müssen uns verstecken.« Im Schlafzimmer gab es natürlich nur ein Versteck, der begehbare Schrank, die letzte Zuflucht für das unschuldige Opfer des Slashers in Horrorfilmen. Schnell trat Reggie in Dr. Hunters Hälfte und zog die widerstrebende Sadie zu sich.
    Es gab nicht genügend Platz zum Atmen, es war schrecklich, es war, als würde man nach Narnia gehen, aber es befände sich keine Welt dahinter, nur Dr. Hunters Kleider, die gegen Reggies Gesicht drückten und nach Dr. Hunters Parfum dufteten. Reggies Herz war nicht mehr in ihrer Brust, es war zu groß und zu laut, um noch hineinzupassen, es füllte das ganze Schlafzimmer. Bum, bum, bum.
    Die Männer sprachen mit Mr. Hunter im Flur vor der offenen Schlafzimmertür. Durch die Schlitze in der Schranktür sah Reggie den Rücken eines Mannes. Er war groß, größer als Mr. Hunter, und steckte in einer Lederjacke, sie sah den dicken Stamm seines Stiernackens und seinen kahlen Kopf. Am Handgelenk trug er eine dicke Golduhr, und er tippte demonstrativ auf das Zifferblatt und sagte zu Mr. Hunter: »Die Zeit wird knapp, Neil.« Auch aus Glasgow, so wie er klang.
    Dort, wo sie standen,

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