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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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davon, die Polizei zu rufen, aber Howard wurde sie irgendwie los.
    Er war gut darin, Frauen loszuwerden. Joanna erinnerte sich nur noch daran, dass sich Martina, nachdem das Kindermädchen mit einem Taxi davongefahren war, zu ihr wandte und sagte: »Kein Kindermädchen mehr, Schatz. Ich kümmere mich von jetzt an um dich. Versprochen.« Versprich nichts, was du nicht halten kannst, sagte ihre Mutter immer, und sie hatte recht. Sie sagte es nicht zu ihren Kindern, sie sagte es vor allem zu ihrem Vater, Howard Mason, dem großen Heuchler.
    Die Frau, die nach der Dichterin kam (die in Wahrheit vor der Dichterin kam, was einer der Gründe war, warum sich Martina mit ihren Flaschen der Erlösung ins Bett legte), war Chinesin, eine Künstlerin aus Hongkong, die Howard versicherte, dass Joanna glücklicher wäre, wenn sie nicht in die örtliche Schule ging, wo sie sich endlich eingelebt hatte, sondern in ein Internat tief in den Falten der Cotswolds, und so wurde Joanna auftragsgemäß weggeschickt, bis sie achtzehn war. Nur in den Ferien kam sie nach Hause.
    Ihr Vater lebte Jahre im Exil in Los Angeles und versuchte, eine neue Karriere zu starten, und sie verbrachte die Schulferien bei Tante Agnes und Onkel Oliver, schreckliche Menschen, die Angst vor Kindern hatten und sie wie ein gefährliches, wildes Tier behandelten, das ständig gequält und an die Leine genommen werden musste. Jetzt beschränkte sich ihr Kontakt auf den Austausch von Weihnachtskarten. Joanna konnte ihrer Tante nie verzeihen, dass sie sie nicht mit Liebe verwöhnt hatte, wie sie es an ihrer Stelle getan hätte.
    Nur weil sie eine Anzeige in der Zeitung sah, wusste sie, dass ihr Vater gestorben war. Seine fünfte, vergessliche Frau hatte es unterlassen, sie zu benachrichtigen, und ließ ihn verbrennen und seine Asche verstreuen, bevor Joanna erfuhr, dass er endlich gestorben war. Da lebte er in Rio, wie ein Verbrecher oder ein Nazi. Die fünfte Frau war Brasilianerin, und vielleicht hatte Howard auch davon abgesehen, ihr von seiner Tochter zu erzählen.
    Sie hätte untergehen können, aber die Schule glich die Versäumnisse der Masons aus. Durch reinen Zufall hatte Howard sie in ein Internat gesteckt, in dem man sie förderte und hegte, und im Gegenzug erwies sie sich als heiter und liebte das Schulleben mit seinen geordneten Tagen und seinen tröstlichen Regeln.
    Als Joanna von der Schule ging und studierte, hatte Howard eine weitere Frau und mehrere Geliebte verschlissen, aber er bekam keine Kinder mehr. »Ich hatte Kinder«, erklärte er betrunken in Gesellschaft wie ein auf seine Wirkung bedachter Tragöde. »Sie sind nicht zu ersetzen.«
    »Und du hast immer noch Joanna«, erinnerte ihn jemand, und er sagte: »Ja, natürlich. Gott sei Dank, ich habe immer noch Joanna.«
     
    »Zehn lagen in einem Bett«, sang sie dem Baby leise vor, obwohl es schlief. »Und der Kleinste sagte: ›Rutsch rüber, rutsch rüber.‹« Es war problemlos auf der unebenen Matratze eingeschlafen, auf der sie gemeinsam schliefen, aber wie gewöhnlich um vier morgens aufgewacht, um gestillt zu werden. Die Zeit der Nacht, wenn die Menschen starben und geboren wurden, wenn der Körper dem Kommen und Gehen der Seele den geringsten Widerstand leistete. Joanna glaubte nicht an Gott, wie könnte sie, aber sie glaubte an die Existenz der Seele, ja sie glaubte an Seelenwanderung, sie hätte sich zwar nicht vor einer wissenschaftlichen Konferenz dazu bekannt, doch sie glaubte, dass sie die Seelen ihrer toten Familie in sich trug und dass das Baby eines Tages das Gleiche für sie tun würde. Nur weil man eine rationale und skeptische Atheistin war, hieß das nicht, dass man nicht jeden Tag so gut wie möglich durchstehen musste. Es gab keine Regeln.
    Die beste Zeit ihres Lebens war die Schwangerschaft gewesen, als das Baby noch sicher in ihr war. Sobald man auf der Welt war, fiel einem der Regen ins Gesicht, lüpfte der Wind das Haar, die Sonne brannte auf einen herunter und der Weg erstreckte sich vor einem und darauf ging das Böse.
    Draußen war kohlrabenschwarze Nacht, ein winterweißer Mond ging auf.
    Das Baby war so alt wie Joseph, als er starb. Er wurde so früh aus dem Leben gerissen, dass sie sich unmöglich vorstellen konnte, was für ein Mann er geworden wäre, hätte er gelebt. Bei Jessica war es einfacher, ihr Charakter stand mit acht schon fest. Loyal, einfallsreich, zuversichtlich, irritierend. Clever, manchmal zu clever. Zu clever, als dass es noch gut für sie wäre,

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