Lebenslügen / Roman
den Boden fiel und aufgeschlagen liegen blieb.
Sie hob es auf. Wieder ein ordentlich herausgeschnittenes Loch in der Mitte. Sie fuhr mit dem Finger über den Rand des kleinen Papiersargs. Versteckte jemand Geheimnisse in Ms MacDonalds Klassikerausgaben? In allen? Oder nur in denen, die sie für das Abitur brauchte? Das ausgeschnittene Loch war das Werk von jemandem, der geschickt mit den Fingern war. Jemandem, der eine Zukunft als Tischler gehabt hätte, stattdessen aber Dealer geworden war und an Straßenecken herumhing, bleich und verschlagen. Er war in der Hierarchie aufgestiegen, aber Billy wusste nicht, was Loyalität war. Er war jemand, der von der Hand, die ihn fütterte, stahl und das Gestohlene in geheimen kleinen Fächern versteckte.
Reggie wollte nicht weinen, aber sie war so müde und so jung, und ihr Gesicht schmerzte, wo das Buch es getroffen hatte, und die Welt war voller großer Männer, die andere mit dem Tod bedrohten. Nette kleine Frau, süßes kleines Baby.
Wohin ging eine Person, wenn sie ganz allein auf der Welt war und nirgendwo mehr hinkonnte?
Jackson verlässt das Haus
I n seiner Stirn befanden sich ein paar Metallklammern, die ihm eine flüchtige Ähnlichkeit mit Frankensteins Monster verliehen. Sein bandagierter linker Arm hing in einer Schlinge, so dass seine Hand auf seinem Herzen lag, auf diese Weise konnte er sich beständig vergewissern, dass er am Leben war. Immer wieder sah er vor sich, wie die Arterie in seinem Arm platzte und erneut sein Blut vergoss. Aber er war nicht länger ans Bett gefesselt. Er war frei. Ein bisschen groggy, sehr waidwund – mit manchen seiner Prellungen hätte er Wettbewerbe gewonnen –, doch im Prinzip auf dem Weg, wieder ein voll funktionierender Mensch zu werden.
Er musste raus. Jackson hasste Krankenhäuser. Er hatte mehr Zeit als die meisten Menschen darin verbracht. Er hatte eine Ewigkeit zugesehen, wie seine Mutter in einem Krankenhaus starb, und als Polizist hatte er eine Weile nahezu jede Samstagnacht in der Notaufnahme verbracht, um Aussagen aufzunehmen. Geburten, Todesfälle (beides gleich traumatisch), Verletzungen, Krankheiten – Krankenhäuser waren keine gesunden Orte. Zu viele kranke Menschen. Jackson war nicht krank, er war instand gesetzt, und er wollte nach Hause oder zumindest an den Ort, den er heutzutage sein Zuhause nannte, die kleine, exquisite Wohnung in Covent Garden, in der sich das unschätzbare Juwel seiner Frau aufhielt oder aufhielte, wenn sie am Sonntagmorgen in Heathrow aus dem Flugzeug gestiegen wäre. Nicht sein wahres Zuhause, sein wahres Zuhause, das er nie mehr erwähnte, war die dunkle, rußige Kammer in seinem Herzen, in der sich seine Schwester und sein Bruder aufhielten und, weil es ein behaglicher Raum war, die gesamte schmutzige Geschichte der industriellen Revolution. Es war erstaunlich, wie viel dunkle Materie man in das schwarze Loch eines Herzens pressen konnte.
Wann immer Jacksons Phantasie durchging, wusste er, dass es Zeit war zu gehen. »Ich gehe jetzt«, sagte er zu Dr. Foster.
»Das sagen sie alle.«
»Nein, wirklich. Ich gehe.«
»Der Hinweis liegt im Wort ›Patient‹, lateinisch für ›geduldig‹.«
»Ich muss nicht länger im Krankenhaus sein.«
»Gestern haben Sie die ganze Zeit davon gesprochen, dass Sie gestorben sind, und heute wollen Sie raus? Den Stein wegwälzen? Einfach so?«
»Ja.«
»Nein.«
»Mir geht es gut genug, um entlassen zu werden«, sagte Jackson zum Zauberlehrling-Arzt.
»Wirklich?«
»Ja, wirklich.«
»Nein, nein, nein, Sie haben die sarkastische Betonung überhört. Hören Sie noch mal hin – wirklich?«
Aufgeblasener, kleiner Potter-Pantomime.
»Ich bin okay«, sagte Jackson zum australischen Mike. »Ich muss hier raus, es nervt mich.«
»Keine Sorge«, sagte der Fliegende Arzt.
»Heißt das, dass ich gehen kann?«
»Jederzeit, Kumpel. Auf eigene Verantwortung. Was hält Sie auf?«
»Ich habe kein Geld. Keinen Führerschein.« (Letzteres schien wichtiger als Ersteres.)
»So ein Pech aber auch.«
»Ich habe nichts zum Anziehen.«
»Alles in Ihrer Größe«, sagte Reggie und deutete auf eine große Tüte von Topman zu ihren Füßen. »Ich bin zu Topman, weil ich dort eine Kundenkarte habe. Ist vielleicht nicht ganz Ihr Stil. Ich habe von allen Sachen eins gekauft.« Sie blickte verlegen drein. »Und drei Unterhosen.« Sie blickte noch verlegener drein. »Boxershorts. Die Größe weiß ich von Ihren alten Sachen, die Schwester hat
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