Lebenslügen / Roman
seine Rendite exponentiell. (Es stimmte, der Teufel schiss immer auf den größten Haufen.)
Zudem war es ihm, mehr oder weniger, gelungen, sich in ethisch vertretbaren Bereichen zu bewegen. Jackson war der Ansicht, dass es genug Elend auf der Welt gab, ohne dass er es finanzierte, doch er investierte so viel in alternative Energiequellen, dass er, wenn es mit dem Erdöl vorbei wäre, vom Ende der Welt, wie wir sie kennen, profitieren würde. »Wie Krösus«, sagte Julia. »Alles, was du anfasst, wird zu Gold.«
In seinem früheren Leben, als das Pech an seinen Fersen klebte wie ein treuer Spürhund und alles, was er anfasste, zu Scheiße wurde, konnte er kaum die monatlichen Kreditraten zahlen und das gelegentliche Lotterielos war seine einzige Investition gewesen. Und man hätte darauf wetten können, hätte er Aktien und Fonds gekauft (lächerlich unwahrscheinlich), wäre der Weltmarkt am nächsten Tag zusammengebrochen. Jetzt konnte er das Zeug gar nicht alles weggeben. Oder nein, das stimmte nicht ganz, Jackson war noch nicht bereit, vollkommen Zen zu werden und ganz und gar auf seine weltlichen Güter zu verzichten. (»Dann hör auf zu jammern«, sagte seine Exfrau.)
Jackson hatte einen unbequemen Platz an einem Vierertisch am Ende des Abteils ergattert. Neben ihm, am Fenster, saß ein Mann in einem schlaffen Anzug und arbeitete konzentriert an seinem Laptop. Jackson erwartete, dass der Bildschirm mit Tabellen und Statistiken gefüllt wäre, aber stattdessen waren es Worte. Jackson schaute weg, Zahlen waren unpersönlich genug, um den Blick darüber schweifen zu lassen, doch Worte waren privat. Der Mann hatte seine Krawatte gelockert und verströmte einen schwachen Geruch nach Bier und Schweiß, als wäre er schon zu lange von zu Hause fort. Auf der anderen Seite des Tisches saßen zwei Frauen: Eine war alt und mit einem Roman von Catherine Cookson bewaffnet, die andere, die gleichgültig in einer Promiillustrierten blätterte, war eine vierzigjährige Blondine mit einem Vorbau wie ein zu prall gestopfter Truthahn. Sie trug sirenenroten Lippenstift und ein dazu passendes Oberteil, das eine halbe Nummer zu eng war und vor Jacksons Augen leuchtete wie ein Signalfeuer. Er war überrascht, dass nicht »Von mir aus gern« auf ihre Stirn tätowiert war. Die alte Frau war blau vor Kälte, obwohl sie Hut, Handschuhe, Schal und einen dicken Wintermantel anhatte. Jackson war froh über die North-Face-Jacke, die zu seiner Verkleidung gehörte, dann fühlte er sich schuldig und bot sie der alten Frau an. Sie lächelte und schüttelte den Kopf, als hätte sie jemand vor langer Zeit davor gewarnt, mit Fremden im Zug zu sprechen.
Der Anzug neben ihm hustete, ein ungesundes, schleimiges Geräusch, und Jackson fragte sich, ob er ihm seine Jacke anbieten sollte. Fremde im Zug. Gäbe es einen Notfall, würden sie einander helfen? (Man sollte die Leute nie überschätzen.) Oder müsste jede Frau selbst schauen, wo sie blieb? So überlebte man in einem Flugzeug oder Zug, man musste alle und alles ignorieren, um jeden Preis rauskommen, sich selbst oder, wenn nötig, jemand anderem ein Körperteil abnagen – über Sitze, über Menschen steigen, alles vergessen, was einem die Mutter über Manieren beigebracht hatte, weil die Leute, die es zum Ausgang schafften, die waren, die überlebten, um, buchstäblich, die Geschichte zu erzählen.
Die Folge eines schlimmen Zugunglücks war ein Schlachtfeld. Jackson wusste es, er hatte eines erlebt am Anfang seiner Laufbahn bei der Polizei, und es war schlimmer gewesen als alles, was er in der Armee gesehen hatte. In dem Wrack war ein kleines Kind eingeklemmt, sie hörten es nach seiner Mutter schreien, doch sie kamen unter den Tonnen von Stahl nicht einmal in seine Nähe.
Nach einer Weile verstummte das Weinen, aber Jackson hörte es noch monatelang in seinen Träumen. Das Kind – ein Junge – wurde schließlich gerettet, aber seltsamerweise linderte das die Erinnerung an seine Schluchzer nicht (Mummy, Mummy). Kurz zuvor war Jackson selbst Vater von Marlee geworden, ein Zustand, in dem er sich geschunden und zerrissen und vollkommen im Widerspruch zu seinen pränatalen Sorgen fühlte, die hauptsächlich darin bestanden hatten, einen Kinderwagen auszusuchen – mit maskuliner Aufmerksamkeit für technische Details, wie er sie normalerweise für ein Auto aufbrachte (Feststellbare, drehbare Vorderräder? Höhenverstellbare Griffe? Verstellbarer Sitz?). Doch die Vaterschaft erwies
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