Lebenslügen / Roman
Sauberkeit auskannte, was er definitiv nicht tat. Reggie hatte der durchtriebene Blick ihres Bruders nicht gefallen, sie kannte ihn nur zu gut. Als Kind hatte der Blick Ungezogenheit bedeutet, jetzt bedeutete er Ärger.
Reggie sorgte sich, dass Billy eines Tages vor Dr. Hunters Haus vorfahren würde, um sie abzuholen, und sie müsste ihn Dr. Hunter vorstellen. Sie wusste genau, wie seine verkniffenen, frettchenhaften Züge angesichts der vielen schönen Sachen im Haus der Hunters aufhellen würden. Oder noch schlimmer, dass er auf ebensolche Weise auf Dr. Hunter selbst reagieren würde. Reggie glaubte, dass sie ihn verleugnen müsste (Er ist nicht mein Bruder. Ich weiß nicht, wer er ist). »Fleisch und Blut«, hörte sie Mum sagen. Fauliges Fleisch.
»Was machst du hier, Billy?«
»Dies und das.« Er zuckte die Achseln. (Das war Billy, dies und das, alles und nichts.) »Es ist ein freies Land, oder? Als ich das letzte Mal in diesem Teil von Edinburgh war, habe ich keinen Pass gebraucht.«
»Ich traue dir nicht, Billy.«
»Was immer.«
»Quidquid.« Ha.
»Was?«
Als der Bus kam, machte Billy ein großes Theater daraus, ihr in den Bus zu helfen, als wäre er ein Lakai, der einer Prinzessin in die Kutsche hilft, zog einen imaginären Hut und sagte: »Bis dann, möchte nicht in deiner Haut stecken«, bevor er die Straße entlangschlenderte.
Horch! Horch! Die Hunde bellen, die Bettler kommen in die Stadt.
Kommst du zur Brig O’Dread zuletzt
J ackson fand sich schließlich in einem verspäteten und überfüllten Viehtransport von Zug wieder, der vor Erschöpfung brummte und wummerte. Im Speisewagen gab es keine heißen Getränke, die Heizung war ausgefallen, und manche Leute sahen aus, als würden sie demnächst an Unterkühlung sterben. Taschen und Koffer verstopften die Gänge, und um sich durch den Waggon zu bewegen, musste man einen Hürdenlauf in Zeitlupe absolvieren. Dieser Hindernisparcours hielt mehrere kleine Kinder, außer Rand und Band vor Überzuckerung und Langeweile, nicht davon ab, schreiend im Gang auf und ab zu stürmen. Es war wie ein Zug, der aus dem Krieg zurückkehrte, einem verlorenen Krieg, nicht einem gewonnenen. Zwischen den Waggons saßen tatsächlich zwei müde Soldaten in Wüstenkampfanzügen auf ihren Rucksäcken. Das war Jackson einst gewesen, in einem anderen Leben.
Als Jackson aus der Armee ausschied, schwor er sich, nicht zu tun, was so viele andere taten, und in den Sicherheitsdienst zu gehen. Die Hälfte der Soldaten, die unter ihm gedient hatten, fanden sich am ächzenden Ende des Geschäfts wieder – in schwarzen Mänteln vor den Türen von Kneipen und Clubs frierend. Er ging zur Polizei von Cambridgeshire, er war Vizeleutnant bei der Militärpolizei gewesen, und es schien ein natürlicher Schritt. Als er aus der Polizei ausschied, schwor er sich, nicht zu tun, was so viele andere taten, und in den Sicherheitsdienst zu gehen – Wachmänner bei Marks and Spencer, Detektive bei Tesco –, die Hälfte von ihnen waren Leute, die mit ihm bei der Polizei gewesen waren. Er schied im Rang eines Kriminaloberkommissars bei der Polizei aus, und das schien eine gute Basis, um sich als Ein-Mann-Privatdetektei zu etablieren, und als er sie aufgab, musste er sich nichts schwören, dank einer alten Mandantin, die ihm ein Vermögen hinterlassen hatte.
Wenn ihn die Leute jetzt fragten, was er tat, antwortete er ironischerweise »Sicherheitsdienst« in einem kryptischen Fragen-Sie-nicht-weiter-Tonfall, den er in der Armee gelernt und bei der Polizei perfektioniert hatte. Nach Jacksons langjähriger Erfahrung deckte »Sicherheit« eine Vielzahl von Sünden ab, aber tatsächlich war es eine ziemlich eindeutige Sache, er hatte eine Karte in der Brieftasche: »Jackson Brodie – Sicherheitsberater« (»Berater« war ein Wort, das noch mehr Sünden abdeckte). Er brauchte das Geld nicht, er brauchte die Selbstachtung. Ein Mann konnte nicht nichts tun. Für Bernie zu arbeiten, war vielleicht keine gerechte Sache (im Grunde seines Herzens war Jackson ein Kreuzzügler, kein Pilger), aber es war besser, als zu Hause Däumchen zu drehen.
Und Sicherheit war besser, als zu sagen, »Ich lebe vom Geld einer alten Frau«, weil er das Geld, das ihm seine Mandantin hinterlassen hatte, in keiner Weise verdient hatte, und es lastete so schwer auf ihm, als würde er es in einem Sack über der Schulter tragen. Er besaß einen Goldesel, denn da er die zwei Millionen fast komplett investiert hatte, wuchs
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