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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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den Arm um Mums Taille und spürte die behagliche Speckrolle, die ihre Mitte umspannte, und ihren weichen Bauch (»Mein Schwabbelbauch«, sagte Mum dazu). Das war es – Reggie erinnerte sich am liebsten daran, wie sie gemeinsam ER gesehen und Hähnchen Chow-mein gegessen hatten und sie dabei den Schwimmreifen ihrer Mutter spürte. Es war ein bisschen Pipifax, wenn man darüber nachdachte. Man sollte hoffen, dass zwei so verbundene Leben sich zu mehr summieren würden. Reggie stellte sich vor, dass Dr. Hunter und ihr Sohn sich wahrhaft erstaunliche Erinnerungen verschaffen würden, sie würden den Amazonas in einem Kanu befahren, die Alpen erklimmen, in die Oper in Covent Garden gehen, Shakespeare in Stratford sehen, den Frühling in Paris und Silvester in Wien verbringen, und Dr. Hunter hinterließe kein Fotoalbum, in dem sie sich überhaupt nicht ähnlich sah. Der Gedanke, dass das Baby zu einem Jungen und dann zu einem Mann würde, war komisch. Es war einfach nur ein Baby.
    »Mein kleiner Prinz«, gurrte Dr. Hunter das Baby an.
    »Wir sind alle Könige und Königinnen, Dr. H.«, sagte Reggie.
     
    »Ist Neil schon da?«
    »Mr. Hunter? Nein.«
    »Er muss babysitten, hoffentlich hat er es nicht vergessen. Ich gehe mit Sheila zu Jenners, heute ist Weihnachtseinkaufabend. Du weißt schon – ein Glas Wein gratis, Plätzchen, die Leute singen Weihnachtslieder, all so was. Warum kommst du nicht mit, Reggie? Ach, nein, heute ist ja Mittwoch. Du musst zu deiner Freundin.«
    »Ms MacDonald ist nicht meine Freundin«, sagte Reggie. »Gott bewahre.«
     
    Dr. Hunter brachte Reggie immer mit dem Baby auf dem Arm zur Tür und sah ihr nach. Sie versuchte dem Baby beizubringen, zum Abschied zu winken, und bewegte seinen Arm, als wäre es die Puppe eines Bauchredners, und sagte immer wieder (mehr zum Baby als zu Reggie): »Tschüss, Reggie, tschüss.« Sadie, die neben Dr. Hunter saß, trommelte zum Abschied mit dem Schwanz auf die Fliesen.
    Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Reggie versucht, sich an die letzten gemeinsamen Momente zu erinnern. Ohne Hilfe des Taxifahrers hatten sie zu zweit den riesigen, hässlichen Koffer in den Wagen gehievt, einen Koffer, der vollgestopft war mit billigen knappen Oberteilen und dünnen Baumwollhosen und dem peinlich kleinen Badeanzug aus schrecklichem orangefarbenem Lycra, der schließlich das letzte Kleidungsstück war, das sie trug, abgesehen von dem Leichentuch, in dem sie begraben wurde (weil sich in ihrer Garderobe nichts fand, was für die Ewigkeit geeignet schien).
    Reggie konnte sich nicht an den Ausdruck ihrer Mutter erinnern, als sie in den Urlaub aufbrach, aber sie nahm an, dass er hoffnungsvoll gewesen war.
    Ebenso wenig erinnerte sie sich an ihre letzten Worte, obwohl ein »Auf Wiedersehen« bestimmt darunter gewesen war. Normalerweise verabschiedete sie sich mit einem »Bin gleich zurück«. Je reviens. Reggie betrachtete ihren Aufbruch als die erste Hälfte von etwas, was nie vervollständigt wurde. Die zweite Hälfte hätte sich in umgekehrter Reihenfolge abspielen sollen, vale atque ave, Mum am Flughafen, Mum im Flugzeug, Mum landete in Edinburgh, stieg in ein Taxi, fuhr vor der Tür vor, stieg aus – braun gebrannt und wahrscheinlich fülliger – und sagte: »Hallo.« Aber das ereignete sich nie, Bin gleich zurück, ein nicht erfülltes Versprechen. Ihre letzten Worte, und sie waren eine Lüge.
    Reggie erinnerte sich, dass sie gewunken hatte, als das Taxi losfuhr, aber hatte sich ihre Mutter umgewandt und ebenfalls gewunken, oder hatte sie an ihrem Koffer herumgefummelt? Die Erinnerung war trübe, halb erfunden, die fehlenden Teile vorgestellt. Jedes Mal, wenn sich eine Person von einer anderen verabschiedete, sollten sie wirklich achtsam sein für den Fall, dass es das letzte Mal war. Erste Dinge waren gut, letzte nicht so sehr.
    Dr. Hunter wurde von der Tür eingerahmt, wie ein Porträt, das Baby langte nach ihrem Haar, der Hund blickte hingebungsvoll zu ihr auf. Unter ihrem Kostüm trug sie ein weißes T-Shirt, dazu wie gewöhnlich schwarze Schuhe mit flachem Absatz und eine feine Strumpfhose, eine schmale Perlenkette und passende Stecker in den Ohren. Reggie sah auch das Baby in seinem kleinen Matrosenanzug, den Mund mit dem Daumen zugestöpselt, das Stück grüne Decke in derselben Hand, mit der es sich an Dr. Hunters Haar klammerte.
    Und dann wandte Dr. Hunter sich ab und ging zurück ins Haus.
     
    Reggie stand an der Bushaltestelle und las in Große

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