Lebenslügen / Roman
sich als unendlich primitiver. Er tastete nach der Plastiktüte in seiner Tasche. Eine andere Schwangerschaft, ein anderes Kind. Seins. Er dachte an das, was er gefühlt hatte, als er Nathans kleinen Kopf berührte. Liebe. Liebe war nicht süß und leicht, sie kam aus den Eingeweiden und war überwältigend. Liebe war nicht geduldig, Liebe war nicht nett. Liebe war wild, Liebe kannte alle schmutzigen Tricks.
Er hatte Julia in fortgeschrittener Schwangerschaft nicht gesehen. Klein und sexy wie sie war, stellte er sich vor, dass sie hochschwanger auf reife Weise sinnlich war, obwohl sie ihm erzählte, dass sie Hämorrhoiden und Krampfadern hatte und »nahezu kugelrund« war. Sie kommunizierten hin und wieder miteinander, er rief sie an, und sie meinte, er solle sie in Ruhe lassen, aber manchmal sprachen sie, als wäre nie etwas zwischen sie getreten. Dennoch blieb sie dabei, das Baby war nicht von ihm.
Er besuchte sie nach der Geburt im Krankenhaus. Als er das Sechsbettzimmer auf der Entbindungsstation betrat, hatte es ihm das Herz zusammengeschnürt, als er sie mit dem Baby im Arm sah. Sie saß an die Kissen gelehnt da, das wilde Haar fiel ihr offen über die Schultern, und sie sah aus wie eine Madonna – der Anblick wurde nur verdorben durch den Eindringling, Mr. Arty-Farty Fotograf, der neben ihr auf dem Bett lag und das Baby anhimmelte.
»Da schau her – die unheilige Familie«, sagte Jackson (weil er nicht anders konnte – das war die Geschichte seines Lebens, was das Klappeaufreißen vor seinen Frauen betraf).
»Geh wieder, Jackson«, sagte Julia freundlich. »Du weißt, dass das keine gute Idee ist.« Mr. Arty-Farty, der etwas provokativer war, sagte: »Verschwinde oder ich knall dir eine.«
»Nicht sehr wahrscheinlich, du Riesenweichei«, sagte Jackson (weil er nicht anders konnte). Der Kerl war verzärtelt und nicht fit, Jackson glaubte, ihn mit einem Schlag ausschalten zu können.
»Der bessere Teil der Tapferkeit ist Vorsicht, Jackson«, sagte Julia, und ein warnender Ton kroch in ihre Stimme. Auf Julia war Verlass, wenn es darum ging, in einer Situation wie dieser zu zitieren. Sie steckte dem Baby den kleinen Finger in den Mund und lächelte ihm zu. Zwei Welten. Jackson hatte sie nie zuvor so glücklich gesehen, und er hätte auf der Stelle kehrtgemacht und wäre gegangen aus Hochachtung vor Julias neugefundener Erlösung, aber Mr. Arty-Farty (er hieß eigentlich Jonathan Carr) sagte: »Hier gibt’s nichts für dich zu holen, Brodie«, als ob ihm diese Krippenszene gehörte, und Jackson merkte, wie er den Verstand so weit verlor, dass er den Kerl hier im Zimmer unter den Augen stillender Mütter und neugeborener Babys zusammengeschlagen hätte, wenn Julias (sein) Baby nicht geweint und ihn zum Rückzug getrieben hätte. Jackson hatte so viel Anstand, sich bei dieser Erinnerung in Grund und Boden zu schämen.
Und jetzt lebten die beiden, wehleidige Südengländer bis ins Mark, in seiner Heimat, seinem Revier, während er sich jeden Tag einen Schritt weiter entfernte. Und dass Julia das ländliche Leben einer ländlichen Ehefrau führte, war nicht zu glauben. Er würde eher glauben, dass eine Million Engel auf dem Kopf einer Nadel tanzten, als dass Julia auf einem Aga-Herd kochte. Ja, na gut, die Dales gehörten nicht zu seinem persönlichem Erbe von Schmutz und industriellem Niedergang, aber sie lagen innerhalb der Grenzen von Gottes eigenem Land, das auch Jacksons eigenes Land war. Es floss in seinem Blut, es war im Kalkstein seiner Knochen eingelagert, obwohl seine Eltern beide nicht hier geboren waren. War es auch in der DNS seines Sohnes, die Jackson in der Tasche hatte? Die Blaupause seines Kindes. Eine Kette von Molekülen, eine Kette von Beweisen. In dem Haar wären Spuren seiner Schwester. Niamh, die vor so langer Zeit umgebracht worden war, dass sie mehr als Geschichte denn als Person existierte, eine Geschichte, die man erzählen konnte: Meine Schwester wurde ermordet, als sie achtzehn war.
Er nahm seinen BlackBerry heraus und legte ihn vor sich auf den Tisch. Er rechnete mit einer SMS . Sicher angekommen. In der Zwischenzeit textete er: »Vermisse dich, Jx.« Dafür brauchte er ein, zwei Minuten. Er ließ das Handy liegen, damit er sah, wenn er eine Antwort erhielt.
Die alte Frau gegenüber seufzte und schloss die Augen, als hätte sie das Buch, das sie las, erschöpft. Die Frau in Rot – weder Dame noch Bibliothekarin, sondern eine gute, altmodische Nutte (ähnlich wie
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