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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Frage. Er war nie gewesen, was man promisk nennt (und er war nie untreu gewesen, was ihn nahezu zu einem Heiligen machte), aber er war ein Mann, und er hatte nichts anbrennen lassen. Oh, Mann, dein Name ist Torheit.
    Als er zu ihrem Spiegelbild im dunklen Fenster blickte, las sie ganz unschuldig wieder in ihrem Schundblatt. Vielleicht war es doch kein Zeichen gewesen, vielleicht war seine Phantasie von der stinkenden Atmosphäre des Zugs vergiftet. Er war erleichtert, dass ihm die Prüfung erspart geblieben war.
    Julia hatte es mit Fremden in Zugtoiletten getrieben und einmal in einem Flugzeug, aber das war zugegebenermaßen mit ihm gewesen, nicht mit einem Fremden (damals jedenfalls, jetzt war es anders). Julia lebte aus dem Vollen, sie wusste, was die Alternative war, die Liste ihrer toten Schwestern war eine beständige Erinnerung an die Zerbrechlichkeit des Lebens. Er war froh, dass sie einen Sohn hatte, vielleicht würde sie sich um ihn weniger sorgen als um eine Tochter.
    Und jetzt hatte Amelia, die einzige verbliebene Schwester, Krebs, ihre Brüste wurden in diesem Moment laut Julia »abgehackt«. Sie hatten kurz telefoniert, da Jackson sicher sein wollte, dass Julia nicht zu Hause war, bevor er nach Norden fuhr, um sein Kind zu sehen. Ihr gemeinsames Kind.
    »Arme, arme Milly«, sagte Julia atemloser als gewöhnlich. Kummer förderte ihr Asthma.
    Einmal, in sonnigeren Zeiten, als er mit Julia Urlaub machte, er wusste nicht mehr wo, hatte Jackson ein Bild von einem ihm völlig unbekannten italienischen Renaissancemaler gesehen, abgebildet war die heilige Agatha, die ihre abgeschnittenen, doch vollkommenen Brüste auf einer Platte hoch hielt, als wäre sie eine Kellnerin, die zwei Puddings servierte. Keine Andeutung der Marter, die der Amputation vorangegangen war – die sexuellen Übergriffe, das Strecken auf der Bank, der Hunger, das Rollen über glühende Kohlen. Agatha war eine Heilige, mit der Jackson nur zu gut bekannt war – nachdem bei seiner Mutter der Brustkrebs diagnostiziert worden war, an dem sie sterben sollte, verschwendete sie eine Menge Zeit mit Beten zur heiligen Agatha, der Schutzheiligen der Brustkranken.
    Er wurde von der alten Frau aus seinen Gedanken gerissen, die plötzlich fragte, ob sie bereits am Angel of the North vorbeigekommen wären und ob sie ihn in der Dunkelheit sehen könnte? Jackson wusste nicht, was er sagen sollte – wie er ihr beibringen sollte, dass sie im falschen Zug saß, dass dieser Zug nach London fuhr und sie mehrere Stunden unter diesen beengten, unangenehmen Umständen verbracht hatte und nun umkehren musste, um das Gleiche noch einmal zu erdulden. Der nächste Bahnhof wäre wahrscheinlich Doncaster, vielleicht Grantham, der Geburtsort dieser Frau, der Person, die Großbritannien eigenhändig auseinandergenommen hatte. (»Ach, Herrgott noch mal, Jackson, hör auf damit«, hörte er seine Exfrau sagen.)
    »Daran kommen wir nicht vorbei«, sagte er vorsichtig zu der alten Frau.
    »Aber natürlich tun wir das«, sagte sie. »Wohin, glauben Sie, dass wir fahren?«
     
    Er schlief. Als er erwachte, hämmerte der Anzug noch immer auf seinen Laptop ein. Jackson schaute, ob er eine SMS erhalten hatte, aber nein. Ein Bahnhof zog vorbei, und die alte Frau warf ihm einen selbstgefälligen Blick zu. »Dunbar«, verkündete sie wie eine alte Wahrsagerin.
    »Dunbar?«, sagte Jackson.
    »Der Zug endet in Waverly.«
    Sie war offenbar etwas senil, dachte Jackson. Außer …
    Die Frau in Rot beugte sich vor und bot ihre fülligen, gesunden Brüste Jacksons Kennerblick dar. »Haben Sie die Zeit?«
    »Die Zeit?«, wiederholte Jackson. (Die Zeit wofür? Einen Quickie in der Zugtoilette?) Sie tippte sich in einer übertriebenen Pantomime aufs Handgelenk. »Die Uhrzeit, wissen Sie, wie spät es ist?«
    Die Uhrzeit. (Idiot.) Er blickte auf die Breitling und war überrascht, dass es fast acht war. Sie sollten eigentlich schon in London sein. Außer … »Zehn vor acht«, sagte er zu der Frau in Rot. »Wohin fährt dieser Zug?«
    »Edinburgh«, sagte sie, gerade als ein junger Mann, der sich unsicher einen Weg durch das Abteil bahnte, stolperte, auf Jackson zutorkelte und sich dabei an seine Bierdose klammerte, als könnte sie seinen Fall aufhalten. Jackson sprang auf, nicht so sehr, um den Mann zu retten, als vielmehr sich selbst vor einem Bierschauer zu bewahren. »Vorsicht, Sir«, sagte er, fand instinktiv seine respekteinflößende Stimme, während er den Mann stützte. Er

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