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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Julia) – schien ungefähr so alt wie die schlendernde Frau. Wo war sie jetzt? Schlenderte sie noch immer den Hügel hinauf und ins Tal hinunter? Der Anzug nahm eine zerquetschte Tüte Chips mit Käse- und Zwiebelgeschmack aus der Aktentasche und bot sie in einem widerwilligen Akt der Kameraderie am Tisch an.
    Die Frauen lehnten ab, aber Jackson nahm eine Handvoll. Er war am Verhungern, und seine Chancen, es in den Speisewagen zu schaffen, waren minimal angesichts der vollen Waggons. Wenn du je gabst Fleisch oder Trank, wird das Feuer dich nie schrumpfen lassen. Wenn Fleisch oder Trank du nie jemand gabst, wird das Feuer dich brennen bis ins Gebein. Diese verdammte Totenklage. Hatte sich der Anzug mit der Tüte Chips einen Weg in den Himmel erkauft? Jackson hätte darauf bestehen sollen, dass die alte Frau seine North-Face-Jacke nahm, jetzt müsste er sich womöglich durch das Höllenfeuer zittern.
    Die Chips schmeckten unnatürlich und machten ihn durstig. Hinter seinen Augen pochte es. Er wünschte, er wäre zu Hause.
    Vor dem Fenster war es schwarz, nicht einmal ein Nadelstich Licht von einem Haus, und unablässig prasselte Regen gegen das Glas. Draußen war es höchst unwirtlich. Wo waren sie? Er vermutete irgendwo im Niemandsland zwischen York und Doncaster. In der Nähe seines Geburtsorts. Sein Geburtsrecht aufgegeben, verkauft mit dem Familiensilber in den Achtzigern dank dieser Frau.
    Hatten sie schon in York gehalten? Wenn ja, hatte er es nicht bemerkt. Vielleicht war er zwischendurch eingedöst.
    Er dachte an Louise. Sie waren nicht wirklich in Kontakt geblieben, gelegentlich schickte sie ihm eine SMS , und er vermutete, dass sie dann betrunken war. Es war nichts zwischen ihnen gewesen, zumindest nichts Ausgesprochenes. Ihre Beziehung in Edinburgh zwei Jahre zuvor konnte man, wenn man Schindluder mit dem Wörterbuch trieb, als professionell beschreiben. Sie hatten sich nie geküsst, nie berührt, doch Jackson war überzeugt, dass sie daran gedacht hatte. Er hatte es getan. Oft.
    Und vor ein paar Monaten hatte sie angekündigt, dass sie heiraten würde, eine so unwahrscheinliche (wenn nicht absurde) Begebenheit, dass er annahm, sie scherzte. Irgendwann hatte er geglaubt, dass er in ihrer Zukunft vorkommen würde, und als Nächstes war er in ihre Vergangenheit verstoßen worden. Sie waren zwei Menschen, die sich verpasst hatten, in der Nacht aneinander vorbeigesegelt waren, in zwei verschiedene Häfen. Einer kam durch. Er bedauerte es. Er wünschte ihr Glück. Mehr oder weniger.
    Was für eine Ironie, dass sowohl Julia als auch Louise, die beiden Frauen, denen er sich in den letzten Jahren am nächsten gefühlt hatte, ganz plötzlich geheiratet hatten, und keine von beiden ihn.
     
    Sie rasten durch einen Bahnhof, und Jackson mühte sich vergeblich, den Ortsnamen zu lesen.
    »Was war das?«, fragte er die Frau in Rot.
    »Ich hab’s nicht gesehen, tut mir leid.« Sie nahm einen Spiegel aus der Handtasche und trug den Lippenstift neu auf, zog den Mund in die Breite und fletschte dann die Zähne, um sie auf Schmierflecken zu überprüfen. Jacksons beanzugter Nachbar spannte sich kurz an und hielt in seinem unablässigen Tippen inne, starrte, ohne etwas zu sehen, auf den Bildschirm, traute sich nicht, zu der Frau zu schauen, war aber auch nicht ganz in der Lage, den Blick von ihr zu lassen. Irgendein tierischer Instinkt flackerte kurz in seinem Anzug auf, bevor er niederbrannte, dann sackte er ein wenig zusammen und nahm das Tippen wieder auf.
    Die Frau in Rot fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und lächelte Jackson an. Er fragte sich, ob sie ihm ein handfestes Zeichen geben würde, ein Nicken in Richtung der Toilette, ob sie erwartete, dass er ihr mühsam folgte, sich an den ausdruckslosen Soldaten vorbeidrängte, um sie zu nehmen, sie heftig gegen das mit Seife und Schmutz verschmierte kleine Waschbecken zu stoßen, nachdem er hastig seine Hose zu einem unwürdigen Kreis um seine Knöchel hatte fallen lassen. Denn ich bin immer lüstern und verbuhlt und kann nicht leben ohne Weib. Eine Erinnerung an Julia, die die Helena in Doktor Faustus spielte, in einer gekürzten Version in einem verrauchten Londoner Pub. Jackson fragte sich, ob irgendetwas und wenn ja, was, ihn dazu treiben würde, seine Seele dem Teufel oder sonst jemandem zu verschreiben. Vermutlich wenn er damit ein Leben retten könnte. Das seines Kindes. (Seiner Kinder.) Würde er der Frau in Rot folgen, wenn sie ihm das Zeichen gab? Gute

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