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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Erwartungen, als sie eine Hand in ihrem Nacken spürte, und bevor sie schreien konnte, stieß ihr jemand etwas Hartes in den unteren Rücken und flüsterte ihr ins Ohr: »Keinen Ton, ich habe eine Knarre.«
    »Okay«, flüsterte Reggie. Sie tastete in ihrem Rücken nach der »Waffe«. »Eine Rolle Trebor Mints?«, sagte Reggie sarkastisch. »Mann, hab ich Angst.«
    »Extra scharf«, sagte Billy und grinste.
    »Ha, beschissenes Ha.« In Dr. Hunters Haus benutzte Reggie nie Kraftausdrücke. Sowohl Reggie als auch Dr. Hunter (die behauptete, dass sie früher »geflucht habe wie ein Landser«) gebrauchten harmlose Ersatzworte, improvisierten Unsinn – Zucker, Sprudel, Strandschnecke, Tassen und Untertassen –, aber der Anblick ihres Bruders verdiente mehr als ein »Heiliger Strohsack, hilf mir«. Reggie seufzte. Wenn Mum die Gelegenheit gehabt hätte, ein paar letzte Worte zu Reggie zu sagen, dann wären es, davon war sie überzeugt, »Pass auf deinen Bruder auf« gewesen. Reggie konnte sich noch daran erinnern, als sie beide Kinder gewesen waren und Billy ihr Held und Beschützer, jemand, zu dem sie aufgeblickt und auf den sie sich verlassen hatte, jemand, der auf sie aufgepasst hatte. Sie konnte ihre Erinnerungen an Billy nicht verleugnen, obwohl Billy sie jeden Tag verleugnete.
    Billy war neunzehn, drei Jahre älter als Reggie, und obwohl er sich nicht wirklich an ihren Vater erinnerte, hatte er zumindest Fotos von sich und ihm, die bewiesen, dass sie beide zur gleichen Zeit auf diesem Planeten existiert hatten. Auf den meisten Bildern hielt Billy etwas aus seinem Spielzeugarsenal – Plastikschwerter, Space Guns, Pfeil und Bogen. Als er älter wurde, waren es Luftgewehre und Taschenmesser. Nur Gott wusste, worauf er jetzt stand, Raketenwerfer wahrscheinlich.
    Reggie vermutete, dass er die Liebe zu Waffen von ihrem Vater hatte. Mum hatte ein paar verblasste Fotos von ihrem Soldaten-Mann mit seinen Kameraden in der Wüste, alle mit ihren großen Gewehren in der Hand. Als er Heimaturlaub hatte, schmuggelte er ein »Souvenir« nach Hause, eine große hässliche russische Pistole, die Mum in einer Schachtel oben in der Ablage ihres Kleiderschranks aufbewahrte in dem absurden Glauben, Billy würde sie dort nicht finden. Sie wusste nicht, wie sie sie loswerden sollte. »Ich kann sie doch nicht in die Mülltonne werfen, ein Kind könnte sie finden.« Sie konnte sie auch nicht bei der Polizei abliefern, denn obschon sie eine gesetzestreue Person war, hatte Mum eine Abneigung gegen die Polizei, nicht nur weil sie wegen Billy immer an die Tür klopften, sondern weil sie aus Blairgowrie war, ein Mädchen vom Lande, und ihr Vater hatte offenbar ein bisschen gewildert.
    Es war kein Zufall, dass Billy und die Pistole am selben Tag aus dem Haus verschwanden. »Makarow«, sagte er stolz, fuchtelte damit herum und erschreckte Reggie zu Tode. »Sag Mum nichts davon.«
    »Herrgott, Billy, wir leben nicht im Wilden Westen«, sagte Reggie, und er sagte: »Doch, das tun wir.« Sie fragte sich, warum er nicht gleich zur Armee ging, dort hätte er alle Waffen, die er sich nur wünschte. Er bekäme Geld als Gegenleistung, und die Waffen wären umsonst.
    Dass Billy sich in so großer Nähe von Dr. Hunters Haus aufhielt, beunruhigte sie. Ein paarmal war er vor Ms MacDonalds Haus in Musselburgh aufgetaucht und hatte angeboten, sie nach Hause zu fahren. (Er hatte immer ein Auto. Immer ein anderes.) Ms MacDonald bat ihn in die Wohnung, aber nur weil sie ihn religiös indoktrinieren wollte und er ein verstopftes U-Rohr reparieren sollte. Billy war so ganz und gar nicht die Person, die man um Reparaturdienste bitten sollte, obwohl er die Accessoires (neues Wort) mochte – Hämmer, Teppichmesser, Bohrmaschinen –, doch nicht auf gute Weise. Es war komisch, weil er in einem anderen Leben, auf einem anderen Weg Talent für solche Dinge gehabt hätte. Er war wirklich gut mit den Händen, als er noch ein Junge war. Bevor alles schieflief, verbrachte er Stunden damit, Airfix-Teile penibel zusammenzukleben, und sein Werklehrer meinte, dass er eine Zukunft als Tischler hätte, wenn er wollte. Das war, bevor er Löcher in alle Werkbänke bohrte und das Pult des Lehrers zersägte.
    Jeder, der Billy heutzutage noch umdrehen könnte, wäre ein Wundertäter. Es war Reggie peinlich gewesen, wie er durch Ms MacDonalds unordentliches, vollgestopftes Haus stolzierte und mit dem Finger über die staubigen Bücher fuhr, als wäre er jemand, der sich mit

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