Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
Vom Netzwerk:
recht, sie war heute besonders unleidlich, der viele Kaffee hatte es eine Weile gemildert, aber jetzt spürte sie die Kopfschmerzen einsetzen wie einen Seenebel, der den Forth hinaufzieht.
    »Ich wollte dir nur von der Frau berichten, die behauptet hat, sie hätte David Needler auf der Hafenmauer in Arbroath sitzen und Fish and Chips essen sehen«, sagte Karen.
    »Und?«
    »Die Polizei von Tayside bezweifelt es«, sagte sie mit vollem Mund. »Niemand sonst kann sich an ihn erinnern, und als sie das Foto gesehen hat, war sie sich nicht mehr sicher.«
    »Er ist untergetaucht«, sagte Louise. »Er ist nicht der Typ, der öffentlich herumhängt und in Arbroath Pommes isst.« David Needler war von der cleveren, schlauen Sorte, und er war Engländer, er war wahrscheinlich über die Grenze. Er hatte im Süden noch viele Kumpel, die ihm vielleicht geholfen hatten, natürlich leugneten sie es stur, aber ein paar von ihnen hatten Geld, es war also nicht ausgeschlossen, dass er sich ins Ausland abgesetzt hatte. Doch Louise glaubte, dass er noch irgendwo im Land war, der ganz normale Mann, der Nachbar von nebenan. Vielleicht machte er schon wieder einer Frau den Hof.
    Sie nahm das Foto aus der Akte und studierte sein ausdrucksloses Gesicht, das sie anstarrte. Alison Needler hatte kein neues Foto von ihm allein gefunden (Fotos waren Erinnerungen, vielleicht wollte sich niemand an ihn erinnern), deswegen hatten sie dieses ausgeschnitten und vergrößert. Auf dem ursprünglichen Foto war die ganze Familie zu sehen, aufgenommen in Disneyland Paris – drei Kinder und eine Ehefrau um ihn geschart, lächelnd, als nähmen sie an einem Glückswettbewerb teil. (»Es war ein schrecklicher Tag«, sagte Alison bitter. »Er war mies drauf.«) Louise dachte an Joanna Hunters dreißig Jahre altes Schwarzweißfoto, Menschen festgehalten in einem Augenblick, der nie wiederkam.
    Marcus betrat ihr Büro, wedelte mit einem Blatt Papier herum wie mit einer Fahne. Sein Blick fiel auf das Foto, und er sagte: »Neuigkeiten von Graf Lucan?«
    Alle erinnerten sich an Graf Lucan, aber kaum einer an Sandra Rivett, das Kindermädchen, das er erschlagen hatte. Die falsche Person zur falschen Zeit am falschen Ort. Wie Gabrielle Mason und ihre Kinder, vom kollektiven Gedächtnis nahezu vergessen. Wer konnte die Namen der Opfer des Yorkshire Rippers aufzählen? Oder die von Wests Opfern? Die vergessenen Toten. Opfer verblassten, Mörder lebten in der Erinnerung weiter, nur die Polizei verhinderte das Erlöschen des ewigen Feuers, gab es Jahr für Jahr weiter.
    »Wie hieß das Kindermädchen, das er umgebracht hat?«, fragte Louise Marcus. Hier beginnen die Fragen.
    »Weiß ich nicht«, sagte Marcus.
    »Sandra Rivett«, sagte Karen.
    »Sie hat ein Elefantengedächtnis«, sagte Louise zu Marcus.
    »Und brütet einen Elefanten aus«, sagte Karen. »Ich kann es gar nicht erwarten, bis der kleine Arsch draußen ist.«
    »Zügle deine Zunge, wenn du ein Kind hast«, sagte Louise.
    »Hast du das getan?«
    »Nein.«
    »Du sollst angeblich ein Vorbild für mich sein.«
    »Ja? Dann hast du Probleme.«
    »Boss?«, sagte Marcus und reichte ihr das Blatt Papier. »Unser Mr. Hunter hatte in letzter Zeit etwas Pech. Zwei Wochen vor dem Brand in der Bread Street wurde der Geschäftsführer angegriffen, als er das Geld abholte, und ein Fenster in einer anderen Spielhalle wurde letzte Samstagnacht eingeworfen. Und einer seiner Fahrer wurde vor dem Foot of the Walk aus seinem Taxi gezerrt und verprügelt, bei einem anderen Wagen wurden die Fenster eingeschlagen, als es einen Fahrgast in Livingston aufnehmen wollte –«
    »Livingston?«, sagte Louise scharf.
    »Ist in Ordnung, Boss – hat nichts zu tun mit unserer Frau.«
    Louise wusste nicht, wann oder warum Marcus begonnen hatte, Alison Needler »unsere Frau« zu nennen, aber es brachte Louise jedes Mal aus der Fassung. Unsere Frau von Livingston. Unsere Frau von den Schmerzen.
    Louise konnte Karens Bauch deutlich durch die dünne Schwangerschaftsbluse aus Jersey sehen. Der Nabel stand heraus wie ein Klingelknopf, der darum bat, darauf zu drücken. Als sich das Baby bewegte, pulsierte der Bauch wie etwas aus Alien. Louise erinnerte sich an das merkwürdige, flatterige Gefühl eines sich bewegenden Babys im Bauch, unabhängig und abhängig zugleich, die ewige mütterliche Dialektik. Ein Fuß, ein kleiner Fuß, ein winziges, winziges Füßchen trat gegen das dünne Trommelfell aus Fleisch und Stoff. Louises Übelkeit wurde

Weitere Kostenlose Bücher