Lebenslügen / Roman
Schwanz, wie sie es tat, wenn sie einen Schatz gefunden hatte. Sie hatte etwas in der Schnauze, und als sie bei Reggie ankam, legte sie ihr den Fund zu Füßen, setzte sich und wartete auf Lob.
Reggie blieb fast das Herz stehen, als sie sah, was Sadie auf den Boden hatte fallen lassen.
Der Talisman des Babys, sein Stück moosgrüner Decke. Es sah aus, als wäre es in die Erde getreten worden, und als Reggie es aufhob und genau betrachtete, entdeckte sie einen Fleck, einen Fleck, der nicht Tomatensoße oder Rotwein war, sondern Blut. Reggie kannte Blut. Sie hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden mehr davon gesehen als in ihrem gesamten vorherigen Leben.
Dr. Hunters Praxis war in Liberton, und Reggie ging zu Fuß, weil sie nicht wusste, wie Sadie, die noch nie Bus gefahren war, mit den trampelnden Füßen und schiebenden Körpern zurechtkommen würde. Reggie selbst kam nicht gut damit zurecht. Sie aß das Mars und hätte Sadie ein Stück davon gegeben, aber Dr. Hunter sagte, dass Schokolade schlecht für Hunde war. Sie müsste Hunde-Leckerbissen kaufen, ohne Zucker, Dr. Hunter wollte nicht, dass Sadie Zucker fraß (»Wir müssen auf die Zähne des alten Mädchens achten.«). Reggie hatte ein paar Dosen Hundefutter von Mr. Hunter geschnorrt, aber sie wogen schwer in der Tasche. Sie musste sie hin und wieder mit der Topshop-Tüte über der anderen Schulter austauschen. Sie fühlte sich wie ein Packesel. Mum trug immer viele schwere Taschen mit sich herum – sie hatten sich kein Auto leisten können –, sie hatte gesagt, ihre Gene wären mit denen eines Esels gespleißt. Nein, das hatte sie nicht gesagt, Mum hätte das Wort »spleißen« nicht benutzt, wahrscheinlich nicht einmal das Wort »Gene«. Wie hatte sie sich ausgedrückt? Sie verblasste, zog sich in eine Dunkelheit zurück, in die Reggie ihr nicht folgen konnte. »Mit einem Esel gekreuzt« – das war es. Oder? Die Finsternis fällt ein.
Schließlich war Reggie zu müde, um weiter zu Fuß zu gehen, und fuhr den Rest der Strecke mit dem Bus. Sadie machte sich ziemlich gut für eine erstmalige Busbenutzerin.
Die Praxis befand sich in einem großen, modernen, zweistöckigen Gebäude. Es gab keinen offensichtlichen Platz, wo man einen Hund hätte lassen können, deswegen sagte Reggie zu Sadie »Platz!« und »Bleib!« in ihrem autoritärsten Tonfall, den sie sonst nur beim Baby anwandte (»Nein!«), wenn es sich blitzschnell auf eine tödliche Traube oder Münze zubewegte. Als Sadie noch ein Welpe war, hatte Dr. Hunter Kurse mit ihr absolviert, die sie als Beste abschloss. (»Hundeschule«, nannte Dr. Hunter es. Was eine schöne Vorstellung war.) Sie hatte sogar eine vom Alter fadenscheinige rosa Rosette, um es zu beweisen. Dr. Hunter hatte sie an die Pinnwand in der Küche gesteckt. Sie war ziemlich schlau für einen Hund, sie konnte die üblichen Dinge wie »Sitz« und »Bleib« und »bei Fuß« gehen wie ein Hund bei einer Hundeschau. »Meine Beste«, sagte Dr. Hunter liebevoll. Sadie hatte auch ein Repertoire an »Partytricks«, wie Dr. Hunter es nannte, konnte sich von einer Seite zur anderen rollen, sich tot stellen und einem die Hand schütteln – ihre große Pfote lag weicher und schwerer in der Hand, als man erwartete.
Sadie setzte sich gehorsam auf den Boden vor den großen Glastüren der Praxis, und Reggie ging hinein zum Empfang, wo eine Frau ein wortloses Duell mit einem Computer ausfocht. Ohne in Reggies Richtung zu blicken, hob sie die Hand, um ihr Einhalt zu gebieten. Reggie fragte sich, ob sie auch »Platz« und »Bleib« sagen würde. Schließlich riss die Frau den Blick vom Bildschirm los, sah Reggie förmlich an und sagte: »Ja?« Der Gedanke, dass Dr. Hunter mit so unfreundlichen Menschen zusammenarbeiten musste, schmerzte sie.
»Ich weiß, dass Dr. Hunter nicht da ist«, sagte Reggie. »Aber kann ich erfahren, wann sie zurückkommt?«
»Das kann ich dir leider nicht sagen.«
»Weil es vertraulich ist?«
»Weil ich es nicht weiß. Hast du einen Termin bei ihr?«
»Nein.«
»Weil ich einen Termin mit einem anderen Arzt machen kann.«
»Nein, danke. Sie wissen nicht, warum sie nicht da ist, oder?«, fragte Reggie hoffnungsvoll.
»Nein, das kann ich dir nicht sagen.«
»Weil es vertraulich ist?«
»Ja.«
»Eine letzte Frage«, sagte Reggie. »Hat sie selbst angerufen, oder hat Mr. Hunter angerufen?«
»Wer bist du?«
Fräulein Niemand. Schwester des noch unbedeutenderen Billy. Waise des Sturms.
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