Lebenslügen / Roman
gefahren ist, der es nicht gutgeht.«
»Ja, ich weiß, das habe ich doch gesagt, mir hat er das gleiche erzählt, aber ich glaube es nicht.«
»Die Tante ist keine Glaubensfrage, sie ist nicht der Weihnachtsmann, sie ist eine Verwandte. Sie ist nicht Teil einer großen Verschwörung, um Dr. Hunter zu verstecken.«
»Niemand hat Dr. Hunter gesehen. Niemand hat mit ihr gesprochen.«
»Mr. Hunter schon.«
»Das behauptet er.«
Louise seufzte laut. »Reggie – wie wär’s, wenn ich dich nach Hause fahre?«
»Sie sollten sich die Telefonnummer von Dr. Hunters Tante geben lassen und sich vergewissern, dass es ihr gutgeht. Vielleicht könnten Sie jemand zu dem Haus der Tante in Yorkshire schicken, jemand von dort. Hawes, H-a-w-e-s. Mr. Hunter will mir die Adresse oder die Telefonnummer nicht geben, aber Ihnen muss er sie geben.«
»Genug.« Louise hob die Hand wie eine Verkehrspolizistin. »Schluss jetzt. Dr. Hunter ist nichts zugestoßen. Komm, mein Wagen steht dort drüben.«
»Finden Sie heraus, ob die Tante existiert. Suchen Sie Dr. Hunters Handy, es ist im Haus, dann können Sie sehen, ob die Tante wirklich angerufen hat.«
»Zum Wagen. Jetzt. Nach Hause.«
Sie behauptete, einem Mann bei dem Zugunglück das Leben gerettet zu haben. Offenbar noch so eine Phantasiegeschichte. Louise hätte jemanden in Uniform zu ihr schicken sollen. Hätte es sich um jemand anders gehandelt, hätte sie es getan, aber sie beanspruchte Joanna Hunter für sich und konnte sie nicht mehr loslassen. Ihre Frau.
Ich könnte wegfahren, mich für eine Weile entziehen. Die Finanzen ihres Mannes befanden sich in Kernschmelze, er bewegte sich auf der dunklen Seite, hatte Umgang mit ein paar fragwürdigen Gestalten, die Ehe war wahrscheinlich am Zerbrechen, und Andrew Decker trieb sich irgendwo herum. Wer würde nicht untertauchen? War die Ehe am Zerbrechen, oder projizierte sie ihre eigenen Gefühle auf Joanna Hunter?
Joanna Hunter hatte Reggie nicht erzählt, was ihrer Familie passiert war. Sie hatte es, soweit Louise wusste, niemandem erzählt außer ihrem Mann, und Louise würde dieses Vertrauen nicht brechen. Es war Joanna Hunters Entscheidung, ihre Geheimnisse für sich zu behalten, und nicht Louises, sie weiterzuerzählen. »Ich möchte nicht, dass Reggie es weiß«, sagte Joanna Hunter. »Es würde sie beunruhigen. Die Menschen sehen einen anders, wenn sie wissen, dass einem etwas Schreckliches zugestoßen ist. Sie finden es dann am interessantesten an einem.«
Aber es war am interessantesten. Menschen, die Katastrophen überlebt hatten, waren immer interessant. Sie waren Zeugen des Undenkbaren. Wie Alison Needler und ihre Kinder.
»Eine Last, die man für den Rest seines Lebens tragen muss«, sagte Joanna Hunter. »Es wird nicht besser, es hört nicht auf, es begleitet einen bis zum Ende.« Louise dachte an Jackson, dessen Schwester vor langer Zeit ermordet worden war, und jetzt war er der Einzige, der sie gekannt hatte. Bei Samantha war es anders. Wenn ihr Mann und ihr Sohn sich nicht mehr an sie erinnerten, dann erinnerten sich noch ihre Dinge. Sie lebte weiter, vergessen, aber nicht verschwunden, der Geist von Patricks Frau für immer einbalsamiert in ihren Servietten und Vasen und dem guten silbernen Fischbesteck. Samantha war die wahre Ehefrau, Louise war die bleiche Schwindlerin.
Natürlich musste sie nicht die ganze Strecke bis nach Musselburgh fahren und im Berufsverkehr zurückkriechen.
»Es liegt nicht auf Ihrem Weg«, sagte Reggie.
Das stimmte, aber es machte ihr nichts aus. Nicht aus wahrer Rücksichtnahme auf das Mädchen, sondern weil es die Zeit streckte, die unvermeidliche Rückkehr nach Hause hinausschob. Sie war den ganzen Tag unterwegs gewesen, ihre ganz persönliche Hedschra, und die Vorstellung, anzuhalten, war beunruhigend. Unfähig, an einem Ort zu bleiben, war sie den halben Tag mit dem Wagen herumgefahren, die andere Hälfte hatte sie damit verbracht, sich Orte auszudenken, zu denen sie fahren könnte. (Tut mir leid, es wird spät, es ist etwas dazwischengekommen. Wer hatte darauf bestanden, Bridget und Tim für fünf volle Tage einzuladen? Louise.)
»Wie ist Dr. Hunter?«, fragte sie Reggie Chase auf der Fahrt nach Musselburgh, und das Mädchen sagte: »Also, …« Wie es schien, mochte Joanna Hunter Chopin und Beth Nielsen Chapman und Emily Dickinson und Henry James und legte eine bemerkenswerte Toleranz für die Tweenies an den Tag. Sie konnte Klavier spielen – »wirklich
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