Lebenslügen / Roman
dass er sich in den Verkehr einfädeln konnte.
Aber er wusste, wer er war, seinen Namen, seine Geschichte, alles.
»Ich heiße Jackson Brodie«, sagte er zur Schwester. »Ich erinnere mich jetzt.«
»Jackson Brodie? Sind Sie sicher?«
»Ja.«
»Wo bin ich?«, fragte Jackson die Schwester.
»Im Royal Infirmary in Edinburgh«, sagte sie.
»Edinburgh? Edinburgh, Schottland?« Er klang wie ein amerikanischer Tourist.
»Ja, Edinburgh, Schottland«, bestätigte sie.
Was um alles in der Welt tat er in Edinburgh? Es war der Schauplatz einiger seiner größten Niederlagen im Leben und in der Liebe. Warum war er in Edinburgh? »Ich war unterwegs nach London«, sagte er.
»Dann sind Sie in die falsche Richtung gefahren.« Sie lachte. »Pech gehabt.«
Er mochte nicht wissen, woher er gekommen war, aber er wusste, wohin er wollte. Nach Hause.
Edinburgh. Louise war in Edinburgh. Plötzlich überkam ihn Panik. Niemand hatte nach ihm gesucht. Hieß das, dass er nicht allein im Zug gewesen war, dass Tessa womöglich in Northallerton zugestiegen war und er sich nicht daran erinnerte? Und jetzt lag sie irgendwo im Krankenhaus? Oder Schlimmeres?
Jackson setzte sich auf und griff nach dem Arm der Schwester.
»Meine Frau«, sagte er. »Wo ist meine Frau?«
»Eine alte Tante«
L ouise hatte keinen Frühstückswhisky mit Neil Hunter getrunken, obwohl sie im Gegensatz zu den meisten den medizinischen Geschmack des Laphroaig zu schätzen wusste. Wenn sie musste (manchmal musste sie), konnte sie die meisten Männer unter den Tisch trinken, aber sie hielt sich an die Regeln. Wenn sie trank, fuhr sie nicht Auto, und sie trank nie im Dienst – sie hätte sich in Grund und Boden geschämt, wenn die Kollegen den Whisky in ihrem Atem gerochen hätten. Nur Alkoholiker rochen morgens um neun nach Alkohol. (Ihre Mutter. Immer.) Stattdessen kaufte sie an der Straße einen doppelten Espresso und fuhr ins Büro, setzte sich und ging zum hundertsten Mal durch, wo David Needler angeblich gesehen worden war.
Der Fall war nicht länger heiß, Louise spürte, wie er jeden Tag kälter wurde, wie er ihr entglitt. Eine Weile war er groß in den Medien gewesen, und jetzt war es fast so, als wäre nie etwas passiert, und allmählich meinte sie, dass er für alle Beteiligten zu einer nie enden wollenden Hölle wurde, zu einem Fall, über dem die Kriminalpolizei jahrzehntelang brütete. Louise nahm diesen höchst negativen Gedanken und hielt ihn unter Wasser, bis er schlaff wurde, dann zwang sie ihre verrostete Truhe am Grund des Meeres, sich zu öffnen, und warf ihn hinein.
David Needler war überhaupt nicht gesehen worden, bis über den Fall in Crimewatch berichtet wurde, und danach waren sie überschwemmt worden von Anrufern, die behaupteten, ihn überall gesehen zu haben, von Bangor bis Bognor, aber nichts hatte sich ergeben. Der Mann war vom Radarschirm verschwunden. Er hatte weder eine Kreditkarte noch seinen Pass benutzt. Sein Wagen wurde in der Nähe von Flamborough Head gefunden, aber Louise glaubte, dass das das Werk von jemandem war, der sich für schlauer als die Polizei hielt. Sie war überrascht, dass er nicht das Wort »Spur« in großen schwarzen Buchstaben auf die Seite des Wagens gemalt hatte. Sie glaubte nicht, dass er sich umgebracht hatte, er war nicht der Typ dafür, er hielt sich für viel zu wichtig.
»Hitler hat sich umgebracht«, sagte Karen Warner. »Er hat sich auch wichtig genommen.« Sie stand vor Louises Schreibtisch und aß ein Krabbensandwich von Marks and Spencer, bei dessen Anblick Louise schlecht wurde.
»Napoleon hat sich nicht umgebracht«, sagte Louise. »Ebenso wenig Stalin, Pol Pot, Idi Amin, Dschingis Khan, Alexander, Cäsar. Seien wir ehrlich, Hitler war die Ausnahme von der Regel.«
»Oje, hast du eine Laune«, sagte Karen.
»Nein, habe ich nicht.«
»Doch.« Karens Bauch war riesig. Louise konnte sich nicht erinnern, dass sie bei Archie so dick gewesen war, er war winzig gewesen, fast wie ein Frühchen. Louise gab sich die Schuld, sie hatte während der ersten drei Monate geraucht, weil sie nicht gewusst hatte, dass sie schwanger war. Louise war überzeugt, dass tief in ihrem Inneren, im schlammigen Labyrinth ihres Herzens eine unglaublich gut erzogene Person lauerte und sich fragte, wann sie endlich herausgelassen würde. Patrick fragte sich das wahrscheinlich auch. Der geduldige Patrick, der darauf wartete, dass sie zu einem guten Menschen wurde. Da kannst du lange warten, Baby.
Karen hatte
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