Lebenslügen / Roman
Aschenputtel mit einer Schüssel Linsen. Reggie sagte nichts davon, sondern, »Na gut, auf Wiedersehen«, und hoffte, es würde nicht dazu kommen.
Aus dem Weg aus der Praxis, als sie an einer scheinbar endlosen Reihe von Plakaten vorbeiging, die sie drängten, sich zweimal am Tag die Zähne zu putzen und fünfmal Obst zu essen und auf Chlamydien zu achten, stieß sie mit einer Hebamme zusammen, die für die Praxis arbeitete. Dr. Hunters Freundin Sheila.
Eines Nachmittags im Spätsommer kam Dr. Hunter mit ihr nach Hause und sagte: »Sheila, das ist die berühmte Reggie, mein Lebenserhaltungssystem.« Dann setzten sich Sheila und Dr. Hunter in den Garten, das Baby krabbelte im Gras herum (»Ich kann gar nicht glauben, wie groß er geworden ist, Jo!«), und sie tranken Pimm’s, obwohl Dr. Hunter sagte, »O Gott, Sheila, ich stille ihn noch, es ist eine Schande«, aber sie lachten darüber, und Sheila sagte, »Ist schon in Ordnung, Jo. Glaub mir, ich bin Hebamme«, und sie lachten noch mehr.
Sie boten auch Reggie etwas zu trinken an, doch Reggie dachte, dass jemand alles nüchtern im Blick behalten sollte, falls sie sich betranken, aber natürlich war Dr. Hunter nicht so, und sie streckte den Drink bis zur Dämmerung. Dann kam Mr. Hunter nach Hause und sagte: »Bist du immer noch da, Reggie?«
Beide Frauen schien der Anblick von Mr. Hunter zu beunruhigen, der mit einer Bierdose in der Hand über den Rasen schritt wie jemand, der aus einer anderen Welt bruchgelandet war, aber dann sagte er, »Darf ich mitmachen?«, und Dr. Hunter sagte, »Du kommst zu spät zur Party, wir sind voll wie die Haubitzen«, was nicht stimmte, und Mr. Hunter sagte, »Ja, ein Paar richtige Sumpfhühner«, und alle drei lachten. Reggie ging hinaus, hob das Baby vom Rasen auf und brachte es mit einer Flasche ins Bett – Dr. Hunter bewahrte einen Vorrat abgepumpter Milch im Gefrierschrank auf. Reggie hatte einmal beobachtet, wie Mr. Hunter seine Flasche Stoli aus dem Gefrierschrank nahm und angesichts der kleinen Behälter mit gefrorener Muttermilch die Stirn runzelte. »Der Unterschied zwischen Männern und Frauen«, sagte er und lachte, als er bemerkte, dass Reggie ihn beobachtete. »Am Inhalt des Gefrierschranks sollst du sie erkennen.«
»Du bist Reggie, stimmt’s?«, sagte Sheila. Sie deutete auf ihre eigene Brust und sagte: »Ich bin Sheila, Jos Freundin. Sheila Hayes.«
»Ja, ich weiß, ich erinnere mich. Hallo.«
»Wie geht es dir? Suchst du Jo? Ich glaube nicht, dass sie heute da ist, ich habe sie jedenfalls nicht gesehen.«
»Sie ist zu einer kranken Tante nach Yorkshire gefahren.«
»Wirklich? Davon hat sie nichts gesagt. Das würde es erklären. Wir wollten gestern Abend zu Jenners gehen, zum Weihnachtsabend, aber sie ist nicht gekommen. Das sieht ihr gar nicht ähnlich.«
»Und als Sie versucht haben, sie anzurufen – keine Antwort?«, riet Reggie.
»Ja, komisch, nicht wahr. Das Handy ist ihre –«
»Rettungsleine?«
»Trotzdem«, sagte Sheila, »ein Krankheitsfall in der Familie ist eine Erklärung. Eine Tante?«
»Ja.«
»Sie hat nie eine Tante erwähnt. Bei dir alles in Ordnung, Reggie?«
»Total. Danke.«
Lucy Locket verlor ihren Beutel, Kitty Fisher fand ihn. Aus der Tasche ihrer neuen Jacke nahm Reggie das Stück grüner Decke, das Sadie in Dr. Hunters Garten gefunden hatte. In einem Beutel bewahrten Prostituierte ihr Geld auf, sagte Dr. Hunter. »Kinderreime haben immer eine versteckte Bedeutung.« Das galt Reggies Ansicht nach für viele Dinge. Als Sadie ihr das schmutzige Stück Decke zu Füßen gelegt hatte, war sie entsetzt gewesen. Es gehörte zum Baby. Das Baby gehörte zu Dr. Hunter. Der Hund gehörte zu Dr. Hunter. Reggie gehörte zu Dr. Hunter. Nichts stimmte. Die ganze Welt stimmte nicht. Schwere Zeiten.
Pilgerreise
E r träumte. Er ging auf einer verlassenen Landstraße, folgte einer Frau. Es war die schlendernde Frau aus den Dales. Sie schlenderte noch immer. Er rief »He!«, und sie drehte sich um und sah ihn an. Sie hatte kein Gesicht, nur ein leeres Oval wie ein Teller. Er erschrak. Und erwachte.
»Eine Tasse Tee?«, sagte eine Schwester zu ihm. Eine Krankenschwester (mit einem Gesicht) stellte eine Tasse mit Untertasse auf ein Tablett vor ihn. Und er erinnerte sich an alles. Nicht an das Zugunglück, nicht dass er im Zug gewesen war, das Letzte, woran er sich erinnerte, war, dass er die verlorene Autobahn fand, auf der Auffahrt zur A1 darauf wartete,
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