Lebenslügen / Roman
little helpers. Louise hatte nach Archies Geburt Valium genommen. »Um den Schock ein bisschen abzumildern«, sagte ihr Arzt. Der Kerl war ein Dealer gewesen, verteilte Beruhigungsmittel, als wären es Bonbons. Louise konnte sich nicht vorstellen, dass Joanna Hunter so etwas tat. Louise stillte nicht, als sie die Drogen nahm, ihr war die Milch nie richtig eingeschossen, und nach einer Woche hatte sie keine mehr. (»Stress«, sagte der Arzt gleichgültig.) Archie schien eine Flasche emotional tröstlicher zu finden als die Brust seiner Mutter.
Nach einer Woche hörte sie mit dem Valium auf, sie wurde davon geistig so träge, dass sie Angst hatte, das Baby fallen zu lassen oder es zu verlieren oder zu vergessen, dass sie überhaupt eins hatte.
War Reggie, die selbst fast noch ein Kind war, alt genug, um sich um das Kind einer anderen Frau zu kümmern? Sie war genauso alt wie Archie. Bei dem Gedanken, Archie ein kleines Baby anzuvertrauen, schauderte sie.
»Schaun Sie, schaun Sie, was Sadie in Dr. Hunters Garten gefunden hat«, sagte das Mädchen und drückte ihr ein dreckiges Stück grüner Baumwolle in die Hand.
»Sadie?«
»Dr. Hunters Hund.«
»Was ist das?«, fragte Louise unsicher und hielt den Fetzen zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Das ist die Decke des Babys, sein Maskottchen«, sagte Reggie. »Es nimmt es überall hin mit. Dr. Hunter hätte es nie dagelassen. Ich habe es im Garten gefunden. Warum lag es im Garten? Es war schon dunkel, als ich gegangen bin, und er hat es in der Hand gehalten, und schauen Sie sich das an, das ist Blut.«
»Nicht unbedingt.«
Archie hatte etwas Ähnliches gehabt, ein Stück eidottergelben Plüsch, das eine Enten-Handpuppe gewesen war, bevor sich die Nähte auflösten und die Ente enthauptet wurde. Er konnte abends ohne es nicht schlafen, hielt es fest umschlossen in der Hand, als hinge sein Leben davon ab. Nur im Schlaf entspannten sich seine Finger. Er schlief so tief. Louise schlich sich mitten in der Nacht in sein Zimmer, um seine Zehennägel zu schneiden, Splitter zu entfernen, Schnittwunden und Kratzer zu desinfizieren, all die kleinen Kinderwartungsarbeiten, bei denen er untertags das Haus zusammengeschrien hätte. Er hätte sich eher von Louise getrennt als von dem kleinen Stück gelben Stoffs.
Sie gab es dem Mädchen zurück und sagte: »Sachen gehen verloren.« Unfälle passieren. Milch wird verschüttet. Plattitüden regnen vom Himmel.
»Mr. Hunter hat gesagt, dass Dr. Hunter gefahren ist«, sagte Reggie, »aber ihr Wagen steht in der Garage. Als sie gestern nach Hause gekommen ist, war alles in Ordnung damit. Sie ist weg, aber sie hat mir nicht gesagt, dass sie weg wollte, was ihr überhaupt nicht ähnlich sieht, und Mr. Hunter sagt, dass sie eine kranke Tante besucht, aber sie hat die Existenz einer Tante nie erwähnt, ich habe mit ihrer Freundin Sheila gesprochen, und gestern hätte sie zum Weihnachtsabend von Jenners gehen sollen, aber sie hat ihr nicht gesagt, dass sie nicht kommt – was ganz untypisch für Dr. Hunter ist, glauben Sie mir –, und ihr Handy liegt irgendwo im Haus, ich habe es klingeln gehört, ich habe es eindeutig klingeln gehört, der Krebskanon von Bach – sie würde ihr Handy nie vergessen, es ist ihre Rettungsleine –, sie ist überhaupt nicht vergesslich, Dr. Hunter vergisst nie etwas, und ihr Kostüm fehlt, sie würde nie in ihrem Kostüm die ganze Strecke fahren und –«
»Hol mal Luft«, riet ihr Louise.
»Sie ist verschwunden«, sagte das Mädchen. »Ich glaube, jemand hat sie mitgenommen.«
»Niemand hat sie mitgenommen.«
»Oder Mr. Hunter hat ihr etwas angetan.«
»Etwas angetan?«
Das Mädchen senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ermordet.«
Louise seufzte lautlos. Das Mädchen war eine von denen. Sie hatte eine überbordende Phantasie, konnte sich in eine Idee verrennen und von ihr davontragen lassen. Sie war eine Romantikerin, wahrscheinlich eine Phantastin. Catherine Morland in Northanger Abbey. Reggie Chase war ein Mädchen, das überall etwas Interessantes sah. Sie übte, eine Heldin zu sein, damit hatte Catherine Morland die ersten sechzehn Jahre ihres Lebens verbracht, und sie wäre nicht überrascht, wenn Reggie das Gleiche tat.
»Zufälligerweise war ich heute Morgen bei Mr. Hunter«, sagte Louise. »Wegen etwas ganz anderem.«
»Das ist ein komischer Zufall.«
»Und mehr ist es nicht«, sagte Louise scharf. »Ein Zufall. Mr. Hunter hat mir erzählt, dass seine Frau zu einer Tante
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