Lebenslügen / Roman
aus ihrem Leben verschwunden? So viele Fragen und keine Antworten. Jemand musste Dr. Hunter suchen.
Ad lucem
J ackson spürte einen Stich von etwas, was Einsamkeit sehr ähnlich war. Er wollte, dass jemand, den er kannte, wusste, dass er hier war. Josie zum Beispiel. (Bei Sturm tut’s jede Ehefrau.) Nein, nicht Josie. (Was hast du jetzt wieder gemacht, Jackson?) Julia vielleicht. Sie wäre mitfühlend (oh, Schatz), aber wahrscheinlich nicht auf eine Weise, dass er sich besser fühlte.
»Wie viel Uhr ist es?«
»Sechs«, sagte Schwester Unscharf. (»Ich heiße eigentlich Marian.«)
»Morgens?«
»Nein.«
»Abends?«
»Ja.«
Er musste fragen nur für den Fall, dass es noch eine Tageszeit gab, auf die sechs Uhr passte. Alles andere war von innen nach außen gekehrt, warum nicht auch die Zeit. »Kann ich das Telefon haben?«
»Nein. Sie werden sich ausruhen, und wenn es Sie umbringt«, sagte die Schwester. Sie war Irin. Das passte, sie klang wie seine Mutter. »Wenn Sie sich um Ihre Frau Sorgen machen, dann bin ich ganz sicher, dass wir sie morgen erreichen. Nach einem Unglück herrscht immer ein großes Chaos.«
»Ich weiß. Ich war Polizist«, sagte Jackson.
»Wirklich? Dann werden Sie jetzt tun, was ich Ihnen gesagt habe, und wieder schlafen.«
Er fragte sich, wann die Dankbarkeit einsetzen würde. Das »Ich bin fast gestorben, habe aber eine zweite Chance«-Ding. Sollte man das nicht nach einer Nahtoderfahrung empfinden? Ein plötzliches Wegfallen der Angst, die Entschlossenheit, von jetzt an das meiste aus jedem Tag zu machen. Ein neuer Jackson, der aus der Hülle des alten trat und in den Rest seines Lebens wiedergeboren wurde. Er empfand nichts davon. Er fühlte sich krank und müde.
»Bleiben Sie da stehen und starren mich an, bis ich eingeschlafen bin?«
»Ja«, sagte Schwester Unscharf. Schwester Marian Unscharf.
Er erwachte, als etwas seine Wange streifte, ein Schmetterlingsflügel oder ein Kuss. Wahrscheinlicher ein Kuss als ein Schmetterlingsflügel.
»Hallo, Fremder«, sagte eine vertraute Stimme.
»Unscharf«, murmelte er.
Er schlug die Augen auf, und da war sie. Natürlich. Er erlebte einen Augenblick übernatürlicher Klarheit. Er war mit der falschen Frau zusammen. Er war in die falsche Richtung gefahren. Das war die richtige Richtung. Die richtige Frau.
»Hallo, du«, sagte er. Er war seit Jahrzehnten stumm gewesen, und jetzt hatte er plötzlich eine Stimme. »Ich habe an dich gedacht«, sagte Jackson. »Ich wusste es nur nicht.«
Ihre Augen waren schwarze Seen der Erschöpfung. Sie war hübscher, als er sie in Erinnerung hatte. Sie legte ihm einen Finger auf den Mund und sagte: »Schsch. Mit unscharf hast du mich gewonnen.« Sie lachte. Er wusste nicht, ob er sie schon einmal lachen gesehen hatte.
»Ich liebe dich«, sagte er.
Fiat lux
G ott sei Dank saß niemand am Esstisch, als sie nach Hause kam. Eine Nachricht von Patrick lehnte an einem Arrangement von Treibhauslilien, das am Morgen noch nicht dagewesen war. Sie hasste Lilien und war überzeugt, dass ihr Duft gezüchtet worden war, um den Gestank verwesenden Fleisches zu übertönen, deswegen lagen sie immer auf Beerdigungen herum. Essen vorher bei Lazio, schrieb Patrick. Komm doch nach, wenn du früh genug zu Hause bist. »Vorher« – vor was?
Bei dem Gedanken, noch einmal mit Bridget und Tim zu essen, wurde Louise schlecht. Und außerdem hatte sie bereits gegessen. Sie war vom Krankenhaus zu einem Drive-in-McDonald’s gefahren und hatte Happy Meals für die Needlers mitgenommen. Die Kinder gingen nicht in Burgerläden, sie waren zu öffentlich. Sie hatten vor dem Fernseher gegessen und dabei Shrek der Dritte auf DVD gesehen. Louise aß ein paar Pommes. Seit Tagen konnte sie kein Fleisch mehr zu sich nehmen, die Vorstellung, totes Fleisch in ihr lebendiges Fleisch zu schieben, war ihr unerträglich.
»Happy Meal«, sagte Alison mit einem schmalen Lächeln, das kein wirkliches Lächeln war. »Davon gibt’s nicht viele.«
»Haben Sie kein eigenes Zuhause?«, fragte Alison nach der Hälfte des Films.
»Na ja …«, sagte Louise. Sie sah ein, dass das nicht die richtige Antwort war.
Sie hatte Deckers Führerschein im Krankenhaus vergessen. Sie hatte ihn mitnehmen wollen. Er schien ein Beweis, aber sie wusste nicht wofür.
Natürlich hatte sie den Führerschein vergessen, sie hatte alles vergessen. Sie hatte für einen Augenblick sich selbst vergessen.
Sie hatte ihren Polizeiausweis gezückt – sie
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