Lebenslügen / Roman
müssten ihr den Ausweis entwinden, wenn sie die Polizei verließe – und auf den Stationen mit Opfern des Zugunglücks gesucht, bis sie ihn fand.
Er war nicht tot, aber er sah ganz zerbrochen aus. Sie sprach mit einem australischen Arzt, der meinte, es sei nicht so schlimm, wie es aussehe. Louise streichelte seine Hand, da, wo die Infusion gelegt war, war ein schwarzer Fleck. Der Arzt sagte, er sei »ausgezählt« worden (offenbar ein medizinischer Ausdruck), sei jetzt aber auf dem Weg der Besserung.
Sie blieb und passte eine Weile auf ihn auf.
Als sie aufstand, um zu gehen, neigte sie sich vor und küsste ihn auf die Wange, und er schlug die Augen auf, als hätte er auf sie gewartet. »Hallo, Fremder«, sagte sie, und er sagte, »Ich liebe dich«, und sie fühlte sich vollkommen desorientiert, als wäre sie in einem Achterlooping durchgeschüttelt und dann über eine Tanzfläche gewirbelt worden. Sie versuchte, die richtige Antwort auf die Erklärung seiner Gefühle zu formulieren, als die irische Schwester hereinkam und sagte: »Er fragt immer nach seiner Frau, Sie wissen nicht zufällig, wo wir sie finden?«, und der Bann war gebrochen.
Als Reggie ihr die Postkarte von Brügge zeigte und sagte, »Ich weiß nicht, ob er tot ist oder noch lebt«, flatterte ihr Herz so ängstlich, als hätte sie schlechte Nachrichten von Archie. Und in dieser Mikrosekunde des Flatterns wusste sie, dass sie nicht so reagieren würde, ginge es um Patrick. Sie hatte einen schrecklichen Fehler gemacht, nicht wahr? Sie hatte den falschen Mann geheiratet. Nein, nein, sie hatte den richtigen Mann geheiratet, aber sie war einfach die falsche Frau.
»Wir haben ihn eben erst identifiziert«, sagte die Schwester. »Wir dachten, er heißt Andrew Decker.«
»Was?«
Sandy Mathieson hatte die Nachtschicht übernommen. »Ich habe getauscht, damit ich zum Fußballspiel des Kleinen gehen kann.«
»Deckers Führerschein ist am Ort des Zugunglücks aufgetaucht. Er ist also vermutlich in der Gegend, ich sehe nicht, wie der Führerschein sonst hätte herkommen sollen. Veranlass, dass die Häfen überwacht werden.«
»Und alle Kaschemmen aller Städte und so weiter, sieht mir nicht nach Zufall aus«, sagte Sandy. »Glaubst du, dass er auf der Suche nach Joanna Hunter ist? Um zu Ende zu bringen, was er vor dreißig Jahren angefangen hat? So was gibt’s doch nur im Fernsehen und nicht im wirklichen Leben, oder?«
»Wenn ja, dann hat er Pech gehabt«, sagte Louise. »Sie ist in England. Glaube ich. Hoffe ich.« Denn wo war sie, wenn sie dort nicht war? »Mitgenommen«, hatte das Mädchen gesagt. Was, wenn das Mädchen recht hatte? Was, wenn Joanna Hunter etwas zugestoßen war? Etwas Schlimmes. Wieder. Nein, das Mädchen war paranoid. Joanna Hunter war bei ihrer alten kranken Tante. Ende der Geschichte.
»McLellen hat dir was auf den Schreibtisch gelegt«, sagte Sandy. »Kopien der Unterlagen von wie heißt er gleich wieder?«
»Neil Hunter?«
»Ich glaube.«
Sie hörte den Anrufbeantworter ab, nachdem sie die Nachricht gelesen hatte. »Wir sind jetzt auf dem Weg ins Theater« informierte sie Patricks Stimme. Das erklärte das »Vorher«. Sie war überzeugt, dass der leutselige irische Tonfall ihres Mannes sehr beruhigend war, wenn man auf dem Operationstisch lag und von ihm aufgeschnitten werden sollte. Mein Mann. Die Worte waren Steine in ihrem Mund, ein Substantiv und ein Pronomen, die jemand anderem gehörten, nicht Louise. Sie war immer wieder erstaunt, wie mühelos Patrick meine Frau sagte. Er hatte natürlich jahrelange Übung. Wie fühlte sich seine andere Frau? Die in einem geschlossenen Holzsarg unter der Erde auf dem Friedhof lag. Nach fünfzehn Jahren war sie nur noch ein Skelett. Der Autounfall war an Heiligabend passiert, die Mistelbraut.
Er fragt immer nach seiner Frau. Nicht nur hatte Jackson es geschafft, dass er mit einem Psychokiller verwechselt wurde, der Mistkerl hatte auch noch geheiratet.
»Wir trinken zuerst etwas in einer Bar«, lautete Patricks Botschaft weiter. »Wenn du bis dahin noch nicht aufgetaucht bist, hinterlege ich deine Karte am Schalter. Bis bald, arbeite nicht zu hart, ich liebe dich.« Ins Theater? Niemand hatte das Theater erwähnt. Oder? Vielleicht hatten sie heute Morgen beim Frühstück darüber gesprochen, nachdem sie das Gehirn ausgeschaltet hatte, während Tim Tipps gab, wie man Rosen veredelte. (Man muss die ganze Messerklinge durchziehen, ein schlechter Schnitt hat immer einen
Weitere Kostenlose Bücher