Lebenslügen / Roman
Zeichnungen zu machen. Fragen über Fragen, die sanft und erbarmungslos in einer offenen Wunde bohrten.
Das Erste, woran sie sich später erinnerte, war, dass sie eines Morgens allein in einem fremden Bett in einem fremden Zimmer aufwachte und überzeugt war, dass alle anderen auf der Welt tot waren. Das Licht, das durch die Vorhänge fiel, war ungewöhnlich, hell und fremd, und erst als Martina das Zimmer betrat, die Vorhänge aufzog und sagte, »Hallo, mein Schatz, schau, es hat geschneit. Ist das nicht schön?«, begriff Joanna, dass alle lebten, abgesehen von den Menschen, die sie am meisten liebte. Und es war Winter. Still und starr ruht der See.
»Warum kommst du nicht nach unten und frühstückst mit mir?«, sagte Martina und lächelte sie aufmunternd an. »Haferflocken? Oder Eier? Du doch magst Eier, Schatz.« Und Joanna stieg folgsam aus dem Bett und ließ zu, dass der Rest ihres Lebens begann.
Martina war in Surrey aufgewachsen, aber ihre Mutter war Schwedin, aus einer Kleinstadt nahe der finnischen Grenze, und in Martinas Blut floss eine nordische Schwermut. Sie kämpfte so gut wie möglich dagegen an, aber während die nach unten gezogenen Mundwinkel von Joannas Mutter Glück signalisierten, verwiesen Martinas frohgemut nach oben gezogene häufig auf das Gegenteil. Martina, die Dichterin. (Schlampe-Fotze-Hure-Dichterin.) Martina mit dem glatten blonden Haar und dem breiten Gesicht, mit ihrer Last Buße. Martina, die sich nach einem eigenen Kind sehnte, doch vom großen Howard Mason zu zwei Abtreibungen überredet wurde. »Meine skandinavische Muse«, nannte er sie, aber nicht auf freundliche Weise.
Von Martina war nichts mehr übrig. Ihr eines veröffentlichtes Bändchen mit Gedichten, Blutopfer, lange vergessen. (Die Geister an unserem Tisch, ihre bleichen Gesichter erhellen unser Fest/Wir lassen uns nicht auslöschen, sagen sie. Nein, niemals.) Erst viel später begriff Joanna, dass die Gedichte von ihrer verlorenen Familie handelten. Jahrelang hatte sie ein Exemplar voller Eselsohren besessen, aber irgendwann war es verschwunden, wie es oft mit Dingen geschieht. Martina hatte sich mit zwei Flaschen ins Bett gelegt, eine mit Schlaftabletten, die andere mit Brandy. Meine Flasche Erlösung. Das stammte von Sir Walter Raleigh, oder? »Der verliebte Pilger.« Gib mir meine Muschelschale Stille, mein dings dings dings. Martina hatte ihre Gedichte gegeben, aber sie hatten letztlich niemandem geholfen. Schrecklich stöhnt der kleine Bär: »Hol mal schnell den Doktor her.«
Sie fassten den Mann im Monat nach den Morden. Er war jung, kaum zwanzig, er hieß Andrew Decker und machte eine Ausbildung als technischer Zeichner. Martina nannte ihn »den bösen Mann«, und wenn Joanna einen ihrer plötzlichen hysterischen Anfälle hatte, hielt sie sie fest und flüsterte ihr ins Haar: »Der böse Mann ist für immer weggesperrt, Schatz.« Nicht für immer, wie sich herausstellte, nur für dreißig Jahre.
Decker wurde im darauffolgenden Frühjahr der Prozess gemacht, und er bekannte sich schuldig. »Zumindest wird ihr der Prozess erspart«, sagte ihr Vater zu Martina. Joanna war für ihren Vater immer »sie« oder »ihr«, er sagte es nicht boshaft, es schien ihm nur schwerzufallen, sie beim Namen zu nennen. Sie war von den drei Kindern das von ihm am wenigsten geliebte gewesen, und jetzt war sie das einzige und immer noch nicht das Lieblingskind.
Decker wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, die er bis zum Ende absitzen musste. Er galt als zurechnungsfähig, als wäre es nicht irrsinnig, drei vollkommene Fremde aus keinem erkennbaren Grund abzuschlachten. Kein bisschen wahnsinnig, eine Mutter und zwei ihrer Kinder kaltblütig umzubringen. Als er vor Gericht gefragt wurde, warum er es getan hatte, zuckte er die Schultern und sagte, er wisse nicht, »was über ihn gekommen sei«. Joannas Vater war dort gewesen, um dieses kurze und unbefriedigende Ende zu bezeugen.
Im Rückblick begriff Joanna, dass ihr nicht der Prozess erspart wurde, sondern dass sie um ihren Auftritt vor Gericht gebracht worden war. Selbst jetzt noch stellte sie sich vor, wie sie als Zeugin auftrat, in ihrem besten roten Samtkleid mit dem weißen Spitzenkragen, das sie von Jessica geerbt hatte, und dramatisch mit dem Finger auf Andrew Decker zeigte und mit ihrer hohen unschuldigen Kinderstimme sagte: »Das ist er! Das ist der Mann!«
Und jetzt war er draußen. Draußen und frei. »Ich muss Ihnen mitteilen, dass Andrew Decker letzte Woche
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