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Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Titel: Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Lütz
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genau Sie sterben werden. Ich bin sicher, schon morgen würden Sie anders leben. Denn Sie wüssten, morgen wäre unwiderruflich ein unwiederholbarer Tag weniger auf der Lebensrechnung. Nun ist es aber wirklich so, dass es absolut sicher ist, dass Sie sterben und dass daher der morgige Tag unwiderruflich ein unwiederholbarer Tag weniger auf der Lebensrechnung ist. Und damit ist klar, die Zeit ist knapp, auch für Sie, lieber Leser. Da ist die Floskel »Zeit ist Geld« schon eine maßlose Untertreibung. Würden Sie, wenn Sie sicher wüssten, dass Sie in bemessener Zeit sterben werden, für Geld zeitweilig den größten Unsinn tun, lästigen Unsinn, keinen lustigen Unsinn, versteht sich? Zeit ist unendlich viel kostbarer als Geld. Aber was macht man mit ihr, wenn man sie nicht verkauft, nicht vertreibt und nicht totschlägt? Stellen Sie sich vor, es ist Zeit und keiner geht hin!
    Die Antwort ist klar: Muße! Die Zeit und das Leben ganz intensiv in der Einzigartigkeit jedes Moments spüren. Das ist Lebenslust in ihrer höchsten Form.
    Wer das unternimmt, der begibt sich auf ein Abenteuer, das sogar noch weiter reicht. Im Bewusstsein der Unwiederholbarkeit jedes Augenblicks kann ihm in einer eindringlichen Zeit zweckfreier Muße plötzlich Ewigkeit zustoßen.
    1. Erlebte Ewigkeit
    Wenn man unverhofft im Autoradio eine wunderschöne Melodie hört, vielleicht von Mozart – und sich nicht gleich fragt, wie die heißt, wie man die auf CD bekommt, wie man die wiederholen kann; wenn man sich auch nicht gleich als Kritiker betätigt, der technische Mängel an der Einspielung herauszuhören versucht; wenn man sich vielmehr ganz intensiv der Unwiederholbarkeit dieses ergreifenden Moments bewusst ist und ihn genießt, sich ergreifen lässt, dann kann man in diesem Moment eine Ahnung von Ewigkeit bekommen – oder noch mehr, dann ereignet sich Ewigkeit, die die Zeit und den Moment sprengt, auch wenn man währenddessen im bekannten Stau auf dem Kölner Autobahnring steht. Nicht nur das Gehör, alle menschlichen Sinne sind ewigkeitsfähig. Wenn man in vergleichbarer Verfassung durch einen Wald geht ohne das Buch »Mein Wald gehört mir« und darauf verzichtet, den Wald auf den Begriff zu bringen, ihn unter Bildungsgesichtspunkten, unter ökologischen, gesundheitlichen oder ökonomischen Aspekten zu betrachten, und auch nicht nur, um anschließend jemandem von dieser Wanderung zu berichten; wenn der Gang durch den Wald also völlig zwecklos ist, man freilich alles ganz intensiv mit allen Sinnen wahrnimmt, dann mag man ein Gespür dafür bekommen, was Schöpfung ist, und auch dieses Erlebnis sprengt die lächerlich kurze Zeit, die man im Wald verbracht hat. Der Zen-Buddhismus vermittelt vergleichbare Erlebnisse bei der Kunst des Bogenschießens, die bekanntlich nicht im Schießen selbst besteht, sondern im intensiv konzentrierten Spannen des Bogens.
    Kaum eine Situation ist völlig ungeeignet, um dieses intensive Erleben der Zeit und der Lust am Leben zu ermöglichen. Wir müssen nur für einen Moment aussteigen aus all den Üblichkeiten und der Routine des Lebens und uns der Zeit aussetzen. In unseren Gesellschaften ist man das freilich nicht mehr gewohnt. Sogar Pfarrer berichten, dass Gottesdienstbesucher höchstens etwa eine Minute Schweigen aushalten – dann wird geraschelt, gehüstelt und anderweitig angezeigt, dass es nun genug ist. Man muss auch Muße üben. Daher ein praktischer Vorschlag: Nehmen Sie sich mal wenigstens eine halbe Stunde in der Woche Zeit zum Ausstieg aus allen Zweckmäßigkeiten. Wenn Sie das nicht schon einmal versucht haben, wird es Ihnen anfangs gewiss schwer fallen, aber mit der Zeit werden Sie ein anderes Verhältnis zu Ihrer kostbaren Lebenszeit bekommen und vielleicht sogar die Chance, so etwas wie Ewigkeit zu erleben.
    Vor Jahren gab es eine Fernsehdiskussion der beiden großen Philosophen Ernst Bloch und Gabriel Marcel. Beide alten Männer, wohl über 80 Jahre alt, waren in geradezu allem unterschiedlicher Auffassung. Und das war auch zu erwarten. Ernst Bloch als marxistischer Philosoph kam immer wieder auf die Bedeutung der Gesellschaft zu sprechen. Gabriel Marcel, katholischer Existenzphilosoph, beschwor die Tiefe der individuellen Existenz. Der Streit wurde so hitzig, dass Gabriel Marcel heftig und unwillig mit dem mitgeführten Gehstock auf den Boden stieß und sich an einem gewissen Punkt so aufregte, dass er ins Französische wechselte, was den Moderator in arge Bedrängnis brachte. Doch

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