Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
gesundheitsnützlicher Unsinn. Auf diese Weise kann man nämlich die Embryonen bis zur zweiten Woche für die Therapie kranker erwachsener Menschen verwerten und den unangenehmen Ausdruck »töten« dafür vermeiden. Je nach Bedarf werden Menschen auch noch großzügiger wegdefiniert. Die Definition des Menschen als eines Wesens der Selbstachtung ermöglicht künftig vielleicht die Nutzung von Menschen, die keine Menschen sind, sogar über die Geburt hinaus – selbstverständlich unter strenger Abwägung, unter Wahrung der Pietät, nur in bestimmten Fällen.
Doch all diese Umdefinitionsmethoden haben einen erheblichen Nachteil. Auch wenn sich manche Wissenschaftler dazu eine gewisse Zeit diskret nicht äußern, ist es doch nicht zu verschweigen: Es handelt sich wissenschaftlich um groben Unfug. Von der Befruchtung der Eizelle bis zur Berentung und darüber hinaus gibt es keinen qualitativen Einschnitt. Es handelt sich um einen individuellen Menschen in verschiedenen Stadien der Hilfsbedürftigkeit.
Wenn also die offene Erklärung, bestimmte Menschen seien minderwertig, nicht durchsetzbar ist, wenn die Definition bestimmter Menschen als Nichtmenschen gewisse logische Schwierigkeiten bereitet, bleibt nur noch eine Methode, die man etwa mit »Ich war es ja gar nicht!« zusammenfassen könnte. Denn wenn zwar ein Mensch getötet wird, es aber keinen Täter gibt, kann doch eigentlich niemand etwas dagegen haben. Wieder kann man die Juristen zu Hilfe rufen: Wo kein Täter, da kein Richter. Wie aber soll das gehen? Ganz einfach: Es war die Natur! Genial! Die Mutter Natur hat trotz einiger Schattenseiten – die Stärkeren fressen die Schwächeren – einen guten Ruf: Naturkost, Bioprodukte, Ökologie. Und was die Natur tut, ist immer gut, zumindest nicht schlecht. Wenn also bekanntlich zahllose befruchtete Eizellen vor der Einnistung natürlicherweise absterben, dann muss es doch erlaubt sein, das Gleiche, genau das Gleiche, was die Natur tut, von Menschenhand zu tun. Das ist die Lösung! Damit kann man Embryonen beliebig zu therapeutischen Zwecken nutzen – oder doch nicht? Der Philosoph Reinhard Löw erzählte da ein Beispiel: Im Schweizer Oberland kommen jedes Jahr Menschen zu Tode, weil sie von Dachschindeln, die der Sturm von den Häusern weht, erschlagen werden. Schuld ist der Wind, also niemand. Wenn ein Bewohner des Schweizer Oberlands allerdings auf sein Haus steigt und genau das Gleiche macht wie der Wind, nämlich eine Dachschindel im gleichen Winkel, wie es immer der Wind macht – auf seinen ungeliebten Nachbarn wirft, nennt man das Mord. Oder etwa nicht? Wenn der Mensch ein natürliches Ereignis genau imitiert, ist es damit kein natürliches Ereignis mehr, sondern ein menschlicher Akt, für den der handelnde Mensch Verantwortung trägt. Das ist nicht »Ethik des Heilens«, sondern Ethik – Grundkurs.
Auf der gleichen Linie liegt übrigens das Argument, wenn man es selbst nicht tue, dann tue es ein anderer, wenn schon nicht der Wind, so doch gewiss ein anderer Feind jenes verabscheuungswürdigen Nachbarn. Der »Mord im Orientexpress« von Agatha Christie kannte zahlreiche zum Mord motivierte Menschen, aber verantwortlich für den Mord ist nicht der Motivierte, sondern der Täter, selbst wenn er wenig überzeugende Motive hat. Das Argument der KZ-Wächter, sie hätten eine Arbeit gemacht, die sonst andere gemacht hätten, und sie hätten sich noch um eine gewisse Menschlichkeit bemüht, ist natürlich völlig inakzeptabel. Wenn zum Beispiel im Ausland unmoralisch gehandelt wird, kann das kein Grund sein, im Inland auch so zu handeln. Auch das ist Ethik – Fortgeschrittenenkurs.
An diesem Punkt muss freilich etwas klargestellt werden: Um Mord geht es bei der »Ethik des Heilens« nicht, denn Mord geschieht aus niederen Motiven. Hier aber sind die gesellschaftlich höchsten Motive im Spiel, Gesundheitsmotive, nicht böse Absichten, sondern die besten Absichten, Heilungsabsichten – allerdings Heilungsabsichten mit Todesfolge für andere wie bei den Menschenopfern früherer Religionen. Wer aber sind diese anderen? Das sind eben jene, die dem von der Gesundheitsreligion definierten Gesundheitsideal endgültig und unabänderbar nicht gerecht werden. Menschen minderen Werts nach Peter Singer. Damit wäre aber eine geradezu unheimlich plausible Lösung für das drängende gesamtgesellschaftliche Problem des aus den Fugen geratenden Gesundheitswesens in Sicht. Von der gesundheitsreligiös motivierten
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