Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
den Riesentanker Gesundheitswesen mit beschleunigter Geschwindigkeit in die Katastrophe fahren und beim besorgten Blick auf die Kommandobrücke stellt man fest – dass sie leer ist. Niemand fühlt sich wirklich imstande, dieses Schiff zu steuern. Das hat Gründe. Wer ein Schiff steuern will, der muss die Erlaubnis haben, die Geschwindigkeit zu variieren, den Kurs gegebenenfalls zu modifizieren und sogar im Notfall nach Rücksprache mit den Passagieren das Ziel zu ändern. Das alles geht aber beim Gesundheitswesen praktisch aus religiösen Gründen nicht. Weil Gesundheit als das höchste Gut gilt und weil die gesamte Gesellschaft der Gesundheitsreligion huldigt, ist jede Veränderung des Ziels sofort Blasphemie, Gotteslästerung: »Wollen Sie unseren Lesern ernsthaft sagen, dass Gesundheit nicht unbedingt erreicht werden muss?« Jede Modifizierung des Kurses ist Häresie, Irrlehre: »Wollen Sie den Menschen sagen, dass die bisherigen bewährten Methoden der Gesundheitspflege aus finanziellen Gründen nicht mehr angewandt werden sollen?« Jede Reduktion der Geschwindigkeit ist Zynismus: »Wollen Sie Ihren Wählern erklären, dass nicht alle, wirklich alle Maßnahmen ergriffen werden müssen, um den medizinischen Fortschritt voranzubringen?« Das sind keine wirklichen Fragen, das sind Folterwerkzeuge, mit denen man zum Beispiel Politiker sofort zur Räson bringen kann, wenn sie die Absicht haben, unerfreulicherweise die Wahrheit über das Gesundheitswesen zu sagen: dass Gesundheit nicht das höchste Gut ist, dass es andere wichtige Aufgaben der Gesellschaft gibt und dass es gegebenenfalls auch im Gesundheitswesen wie andernorts Grenzen der Finanzierbarkeit gibt. Das sind keine tief schürfenden Erkenntnisse. Jeder vernünftige Politiker weiß das. Aber es klar und unmissverständlich zu sagen gilt als politischer Selbstmord. Unserer Gesellschaft ganz konkret zu erklären, dass eine bestimmte, höchst kostspielige Methode gar nicht oder nur bei einer kleinen Gruppe von Menschen angewandt werden solle, würde wohl ein vergleichbares Gefühl auslösen wie früher das Interdikt, wenn der Papst als Beugestrafe über eine gewisse Region ein Verbot der Sakramentenspendung erließ. Man erlebte sich als von den wirksamen Heilsmitteln ausgeschlossen.
Im Zusammenhang mit der Gesundheit irgendwelche finanziellen Gründe für die Einschränkung von Diagnostik und Therapie zu nennen steht also unter gesundheitsreligiös begründetem, strengem Tabu. Da aber bereits jetzt die Kosten des Gesundheitswesens alle Grenzen sprengen, muss geheuchelt werden. Man verteilt die Kosten so lange auf verschiedene Verantwortliche, bis keiner mehr den genauen Durchblick hat. Jede Gruppe der an den Kosten Beteiligten sieht bei der anderen deutliche Einsparungsmöglichkeiten. Doch die Kostensteigerung im Gesundheitswesen hat letztlich religiöse Gründe. Und wer das nicht zum Thema macht, wird von Improvisation zu Improvisation stolpern und nichts lösen. Doch zugegeben, die weltweit machtvollste Religion aller Zeiten, die Gesundheitsreligion, kritisch unter die Lupe zu nehmen ist ein riskantes Unterfangen.
2. Die »Ethik des Heilens« als Fundamentalismus
»Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral«, heißt es beim alten Bert Brecht. Wenn schon materielle, insbesondere finanzielle Gründe gegen Kursänderungen im Gesundheitswesen auf helle Empörung der gesundheitsgläubigen Gesellschaft stoßen, so könnte man denken, vielleicht mit ethischen Argumenten weiterzukommen. Dem ist aber nicht so. Die Ethik wurde unter Nutzung der bewährten Judomethode von der Gesundheitsreligion schlicht und einfach komplett übernommen – unter Beibehaltung des alten Firmennamens. Ein ehemaliger protestantischer Pfarrer hat im politischen Raum bei der Debatte um embryonale Stammzellen und die so genannte Präimplantationsdiagnostik dafür den Slogan »Ethik des Heilens« entwickelt. Natürlich gibt es eine solche Ethik gar nicht. Vielmehr markiert der Begriff das Ende dessen, was man früher einmal Ethik nannte, nämlich der argumentativen Wissenschaft von der Moral. Der Ausdruck »Ethik des Heilens« hat seinen Auftritt, sobald irgendjemand behauptet, ethische Argumente gegen irgendeine Heilmethode zu haben. Ein führender deutscher Staatsmann hat das hemdsärmelig auf den Nenner gebracht: »Ich bin nicht bereit, einem mukoviszidosekranken Kind, das, den Tod vor Augen, nach Luft ringt, die ethischen Gründe zu erklären, die die Wissenschaft daran hindern,
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