Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
mit guten Augen zu erkennen, aber durch die ganze Inszenierung als Höhepunkt sicher zu erwarten: Er, der König. Und nun der Gang durch diesen langen Saal: Aller Augen auf den Botschafter gerichtet. Niemand sprach. Vorne der König – würdevoll, gelassen. Der Botschafter ging immer noch. Er spürte eine zunehmende Beklemmung. Sein Gang wurde unsicherer. Alle sahen das. Er sah, dass alle das sahen. Das machte es nicht besser. Er ging weiter. Wann endlich war dieser Saal zu Ende? Er war nicht zu Ende. Er war erst genau 10 Meter später zu Ende, als ein durchschnittlicher Botschafter einigermaßen die innere Fassung bewahren konnte. Dann kam er doch beim König an. Was dort nun gesagt wurde, war belanglos, denn was Ludwig sagen wollte, hatte er bereits gesagt, ohne Worte, durch den Spiegelsaal: Frankreich ist mächtig und ich bin Frankreich.
Auch hier ist die Analogie zum Krankenhausbereich erheblich profaner. Doch wenn man im Aachener Klinikum einen Chefarzt erreichen will, ist auch der Weg dorthin dornenreich, ermüdend, immer wieder überraschend, dennoch zweifellos spannungssteigernd. Man muss ebenso durch unzählig viele, unendlich lange Gänge laufen. Man verläuft sich, immer wieder muss man nachfragen – mitleidiger Blick des Antwortenden, man müsse zurück. Wieder geht man einen langen Gang entlang, von dem man schwören könnte, dass man da schon einmal vergeblich gewesen sei. Etwa 10 Meter vor dem Zimmer des Chefarztes Festigung der inneren Überzeugung: »Ich werde das nie finden!« Dann doch noch einmal Aufraffen zur Nachfrage bei einer vorbeilaufenden weiß gekleideten Kompetenzperson. »Aber Sie stehen doch davor!« – »Ach ja, Entschuldigung, danke schön.« Zusammenbruch des sonst üblichen Selbstbewusstseins. Man ist also tatsächlich angekommen, nicht beim Chefarzt, aber vor seinem Sekretariat. Hier ist das Ende des Suchens, jedoch der Beginn des Wartens. Wichtig ist der Chefarzt, lange muss man warten, in einem Vorzimmer. Dann der entscheidende Moment. Die Sekretärin betritt den Raum. »Der Herr Professor erwartet Sie.« Da ist es mit der Fassung vorbei. Das ist messbar. Man weiß inzwischen, dass die bei solchen Konsultationen gemessenen Blutdruckwerte mit den normalen Blutdruckwerten dieser Patienten absolut nichts zu tun haben. Man betritt ein geräumiges Büro. Und hinter einem großen Schreibtisch erblickt man ihn, den ersehnten glänzenden Spezialisten, dessen Ruhm der Erdkreis kündet, würdevoll, gelassen: »Wie geht es?« Jeder, der nach solcher Prozedur mit »gut« antwortet, lügt. Aber auch die ausländischen Botschafter haben König Ludwig XIV. zumeist nicht die Wahrheit gesagt. Doch darum geht es ja auch gar nicht. Denn was immer jetzt besprochen wird, ist belanglos. Das Entscheidende ist schon gesagt, ohne Worte: Hier ist der Ort letzter Kompetenz, hier sind Heilung und Heil zu erwarten, durch ihn, den Chefarzt.
Demgegenüber in einem Provinzkrankenhaus, welch ernüchternde Banalität: »Zum Herrn Doktor? Geradeaus, erstes Zimmer links.« – Das kann ja nichts sein!
III. Der Preis der Gesundheit
Wenn Gesundheit das »höchste Gut« ist, dann ist es kein Wunder, dass sie einen hohen Preis hat. Die Gesundheitsreligion ist die teuerste Religion aller Zeiten. Es wird gerechnet, dass allein die jährlichen Ausgaben aller Krankenkassen in Deutschland inzwischen höher sind als der gesamte deutsche Bundeshaushalt. Wenn man darüber hinaus den viel umfangreicheren gigantischen Gesundheitspflegebereich vom Fitnesscenter bis zum Vollkostfrühstück mit berücksichtigt, könnte man auf die Idee kommen, dass unsere gesamte Volkswirtschaft inzwischen ein einziges Dienstleistungsunternehmen zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit ist. Man könnte die Hypothese aufstellen, sogar die ungesunden Autos kaufe man letztlich, um zum Fitnesscenter, zum Vollkostladen, zur Wirbelsäulengymnastik oder notfalls zum Arzt zu fahren – oder zur Arbeit, die man auch nur ableistet, um sich ein so gesundes Leben finanzieren zu können. Jedenfalls ist das Gesundheitswesen inzwischen ein so gewaltiger, allgegenwärtiger Koloss geworden, dass die massive Kostensteigerung in diesem Bereich, die die westliche Welt in den letzten Jahren zu beunruhigen begonnen hat, zweifellos eine dramatische Gefährdung der weiteren Entwicklung unserer Gesellschaften darstellt.
1. Die Kostensteigerung im Gesundheitswesen als religiöses Phänomen
Und hier wird es bitterer Ernst. Denn man sieht
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