Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
»Ethik des Heilens« aus, die es erlaubt, gewisse »Menschen minderen Werts« für einen »guten« Zweck zu opfern, könnte sich ein Weg ergeben, die alarmierende, gesundheitsreligiös erzeugte Kostensteigerung im Gesundheitswesen zu begrenzen. Das größte Problem, das die Gesundheitsreligion geschaffen hat, könnte durch die Gesundheitsreligion selbst gelöst werden. Gerade jene »Menschen minderen Werts« stellen nämlich einen riesigen Kostenfaktor dar. Wenn die nun zu einem »guten« Zweck, also für diejenigen, die man noch gesund oder gesünder machen kann, geopfert würden, dann könnte es gelingen, die Kosten massiv zu senken und zugleich den Kreis der Nutzungsberechtigten des Gesundheitswesens erheblich zu verkleinern. Mit solcher menschenverachtender Logik könnte man erreichen, dass für die Übrigbleibenden dann genügend finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, um die kostspieligsten medizinischen Methoden für jeden unbegrenzt einzusetzen. Damit entlarvte sich die »Ethik des Heilens« in ihrer Konsequenz – die freilich von ihren naiven Protagonisten übersehen wird – als Perversion der Ethik.
3. Wer früher stirbt, lebt länger ewig
Es bleibt nur noch eine heikle Frage: Wer bestimmt die Grenze für die Zugangsberechtigten? Behinderte jedenfalls hat man in Deutschland de facto bis zur Geburt für die Tötung freigegeben. Man hört, dass auch banalste Behinderungen ausreichen, dass ein Kind noch bis zum Beginn des Geburtsvorgangs getötet wird. Die Präimplantationsdiagnostik ermöglicht es, mit modernsten Methoden schon vor der Einpflanzung von künstlich gezeugten Menschen in die Gebärmutter eine Selektion von genetisch behinderten Menschen vorzunehmen. Damit würden Abtreibungen verhindert, heißt es. Genauer bedeutet das, dass durch frühere Tötungen spätere Tötungen verhindert werden. Auch das ist allerdings logisch. Die innere Logik stimmt ebenfalls: Wenn man im Sinne umfassender Herstellbarkeit – durch künstliche Befruchtung – Menschen »machen« kann, warum soll man sie dann nicht »wegmachen« dürfen? Durch all dies gibt es schon jetzt weniger Behinderte in Deutschland und auch in anderen Ländern. Die Pflege- und Krankenversorgungskosten in diesem Bereich sinken. Die verbrauchende Embryonenforschung nutzt kleine Menschen, von denen man nicht sicher sagen kann, wie viel diese Kinder das Gesundheitswesen später gekostet hätten, wenn sie nicht getötet worden wären. So kosten sie jedenfalls nichts und nützen nur. Kannibalismus hat das mit etwas herber Direktheit kürzlich der bekannte Biochemiker Erwin Chargaff genannt. Menschen über neunzig, wie Chargaff, sind, wie sich an solchen Ausdrücken zeigt, für die Regeln der gesundheitsreligiösen Political Correctness aussichtslose Fälle. Allerdings aßen Kannibalen andere Menschen in der Tat nicht aus Hunger, sondern um sich deren »Kräfte« einzuverleiben. Ein inzwischen wieder ziemlich moderner Gedanke.
Nach der Geburt stößt die Tötung von »Menschen minderen Werts« freilich immer noch auf gesellschaftliche Empfindlichkeiten. Einige Frauenärzte plädieren zwar schon für die so genannte Früheuthanasie, da die legale Tötung des behinderten Kindes unmittelbar vor der Geburt technisch ziemlich kompliziert sei und das Ganze nach der Geburt mit mehr Ruhe gemacht werden könnte. Doch daran wagt man sich noch nicht. Generell eröffnet aber die Entwicklung, die durch die niederländische Euthanasiegesetzgebung ausgelöst wurde, die Möglichkeit, nicht mehr nur Sterbenden, sondern schon schwer kranken und sogar zeitweilig depressiven Menschen einen für die Gesundheitsgesellschaft sehr kostengünstigen Ausweg zu ebnen. Eine Niederländerin, die die Euthanasiegesetzgebung ihres Landes zunächst verteidigte, gab mir gegenüber freilich zu, es habe sie vor einigen Wochen doch ziemlich geschockt, als eine gute Freundin angerufen habe, um mitzuteilen, dass ihr Ehemann am kommenden Mittwoch sterben werde, und am Samstag wäre dann die Beerdigung. Das sei so terminlich am besten hingekommen. Man müsse sich, so sagte diese Niederländerin, an so etwas wahrscheinlich erst noch gewöhnen.
Das Unheimliche an dieser sich abzeichnenden, unheimlich plausiblen Lösung der selbst gemachten Probleme der Gesundheitsreligion ist vor allem, dass niemand genau weiß, wie lange er persönlich noch innerhalb der Grenze liegt. Die Grenze ist ja auch variabel und Sie erinnern sich, lieber Leser: Ihre Antwort auf die Frage, ob Sie eigentlich
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