Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
äußerst geringer Hirnmasse – und sie haben sicher Zukunft. Grund dafür ist, dass die Gesundheitsreligion eine Religion der heiligen Bilder ist. Die Ikonen des Gesundheitskults sind Filme mit einem Bildvergleich vorher/nachher. Sollte eines Tages durch Transplantation von Hirngewebe die parkinsonsche Erkrankung erheblich gebessert werden und ein Film die frappanten Besserungen zeigen – vor der Operation erstarrte Patienten, danach lockere Menschen, die sich anschicken, ihr Leben zu genießen –, wird jede kritische Nachfrage bezüglich der Identität dieser lockeren Menschen nur noch abwegig bis zynisch wirken. Identität hat keine Bilder, ein Embryo übrigens auch nicht. Es ist nicht wie bei der Kernenergie, wo die Risiken Bilder haben – Tschernobyl zum Beispiel –, aber die Erfolge nicht. Elektrischen Strom kann man nicht zeigen. In der Medizin haben vor allem die Erfolge Bilder. Auf diese Weise werden sich auch andere Probleme in Bilder auflösen. Die Debatte über das Klonen von Menschen wird mutmaßlich dann beendet sein, wenn ein Bild des ersten geklonten Babys durch die Medien geht. Wer angesichts des Bildes eines pausbackigen, süßen kleinen Menschenkinds noch die Frage diskutieren will, ob es dieses Kind eigentlich hätte geben dürfen, wird bestenfalls als lebensfremd, schlechtestenfalls als menschenverachtend dastehen. Das Bild wird de facto die Debatte beenden. Die Herstellbarkeit der Gesundheit und die Herstellbarkeit des Menschen im Bild festgehalten, das ist die Monstranz der Gesundheitsreligion, das Gestalt gewordene Allerheiligste.
IV. Der Arzt als Totengott
Die Hohepriester des Gesundheitskults, die der staunenden, anbetenden Welt diese Bilder zeigen, sind die Ärzte. Sie kamen bisher eher als Objekte der Gesundheitsreligion vor. Wie es ihnen persönlich bei dem ganzen Trubel geht, war noch kein Thema. Und sie sind auch eher Getriebene als Treibende. Es wäre eine geradezu rührende gesundheitsfromme Überschätzung der Ärzteschaft, wollte man annehmen, sie steckte hinter alledem. Als wenn die Priester die Religion machen würden! Das ist ein atheistisches respektive klerikalistisches Ammenmärchen. Die Ärzte sind, wie wir schon sahen, die Projektionsgestalten einer gewaltigen, gesundheitsreligiösen Heilssehnsucht und diese Rolle ist gefährlich. Denn was immer sie tun, sie können diese Erwartungen letztlich nur enttäuschen. Und bei Nichterfüllung – Klage.
1. »Ich leide unter chronischer Differenzialdiagnose«
Schon die Einweisung ins Krankenhaus ist für den Arzt eine schwierige Entscheidung, denn eine solche Einweisung ist ein nebenwirkungsreicher Vorgang. Heilung ist hier nie gewiss, das Heil unmöglich, sicher aber ist, dass jeder Krankenhausaufenthalt Leid verursacht. Damit sind nicht nur die Infektionen gemeint, die man sich im Krankenhaus zuziehen kann. Die Krankenhaussoziologie weiß, dass allein der Tagesablauf in vielen Krankenhäusern ungewöhnlich lästig ist. Institutionelle Zwänge führen dazu, dass Krankenhauspatienten etwa auf den Stand von Zwölfjährigen zurückgeworfen werden: Morgens pünktlich aufstehen (»Wie haben wir denn geschlafen?«), immer alles aufessen (»Sie müssen mehr essen, Herr Müller!«), abends pünktlich ins Bett gehen (um etwa 21 Uhr die freundliche, aber gebieterische Bemerkung der Nachtschwester: »Brauchen Sie noch etwas? Schlafen Sie gut!«). Versuchen Sie es mal mit der Bemerkung: »Ich geh noch mal eben in die Disco!« (Für Zwölfjährige undenkbar, und dazu noch mitten in der Woche, wo doch Schule ist.) In diesem Fall werden Sie eine Ausnahme der sonst so humorlosen Gesundheitsreligion erleben. Man wird das sofort als Scherz erkennen, etwas gequält lachen und die Tür noch bestimmter schließen als sonst. Niemand würde sich andernorts im Ernst herausnehmen, dem jungen, aufstrebenden, Krawatte tragenden Bankmanager einen Discobesuch zu verwehren, und für die Untersuchungen am nächsten Tag wäre das überhaupt nicht störend. Trotzdem – undenkbar!
Erhebliche Einschränkungen der Lebenslust verordnet der ins Krankenhaus einweisende Arzt also in jedem Fall. Dennoch erscheint die Einweisung in vielen Fällen unumgänglich. Nicht unbedingt, weil sie medizinisch notwendig ist. Der erfahrene Hausarzt konnte zumeist sehr wohl abschätzen, ob eine Symptomatik so gefährlich war, dass das eine weitergehende Diagnostik und Therapie erforderlich machte. Er berücksichtigte dabei vor allem, ob solche Maßnahmen Erfolg
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