Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Bedeutung menschlicher Zuwendung und Sorge wieder mehr Aufmerksamkeit schenken.Wenn ich aber blutüberströmt auf der Kreuzung liege, dann hoffe ich nicht auf einen gesprächsbereiten Notarzt im Wohnwagen, der mir tiefes Verständnis entgegenbringt nach dem Motto: »Ich verstehe wohl richtig, dass Sie Schmerzen haben.« Dann wünsche ich, ja dann verlange ich einen kompetenten Kollegen mit hoch technisiertem Rettungswagen, am besten jenen westfälischen Chirurgen, der nicht viel oder sogar gar nichts sagt und – mich repariert, ja repariert! Ich wünsche da »Apparatemedizin«, möchte »an Schläuchen hängen«, nötigenfalls »mit Medikamenten ruhig gestellt« werden. Ich vermute, die meisten werden ebenso denken. Im Notfall ist sie dann nämlich plötzlich wieder hoffähig, die viel gescholtene Apparatemedizin. Dennoch: Ganzheitlich ist sie nie. Gesundheit kann sie nicht herstellen. Für religiöse Verklärung ist sie komplett ungeeignet.
4. Überforderte Götter – die Lebenslügen der Gesundheitsgesellschaft und ihre Opfer
Der Arzt ist selbst Teil der Gesundheitsgesellschaft. Der göttliche Anspruch, den die Gesellschaft an ihn stellt – in gewiss abgemilderter Form stellt er einen solchen Anspruch auch selbst an sich, als Verpflichtung. Wie kaum eine andere Berufsgruppe sind Ärzte fortbildungsbeflissen, aber auch fortbildungsfrustriert. Denn die medizinische Wissenschaft verdoppelt ihr Wissen zurzeit etwa alle fünf Jahre. Niemand kann da ernsthaft mithalten. Das löst einen nicht unerheblichen Druck aus. Immerhin könnte gerade letzte Woche im Ausland eine Methode gefunden worden sein, die diesem schwer leidenden Patienten helfen könnte. Aber man hat noch keine Kenntnis davon erlangt und daher erhält der Patient die mögliche Hilfe nicht. Gerade wer als Arzt die gewaltigen Hoffnungen der Patienten erlebt, wird an so einem Gedanken umso mehr leiden. Und selbst wenn er alle Therapieleitlinien kennen würde, bringt es die Eigenart des Arztberufs mit sich, dass der Arzt seine Verantwortung nicht an irgendwelche Leitlinien abgeben kann. Jede ärztliche Entscheidung ist individuell und höchst persönlich. Ärzte haben sich für die göttliche Heilsbringer-Rolle nicht beworben. Dennoch haben sie den unbestimmten Eindruck, ihr irgendwie gerecht werden zu müssen. Und sie erleben schmerzlich, dass das nicht geht. Wie in kaum einem anderen Berufsbereich kontrastiert die Erwartung der Hilfesuchenden nach endgültigen, wahren und heilbringenden Maßnahmen mit der beunruhigenden Gewissheit der Helfer, dass ihre Entscheidungen außerordentlich vorläufig, niemals wahr und allenfalls heilend sind.
Hier herrscht also ein ständiges Missverständnis zweier Partner über wesentliche Aspekte ihrer Beziehung. In einer Lebenspartnerschaft würde das zu dauernden komplizierten Verwicklungen führen. Beim Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist der Kontakt seltener, daher auch die Verwicklung nicht so dramatisch. Da dieses Missverständnis den Beteiligten nicht ausdrücklich bewusst ist, besteht für den Arzt auch immer wieder die Gefahr, zeitweilig die abwegigen Projektionen der Patienten zu bedienen. So entsteht eine in gewisser Weise stabile pathologische Beziehung. Kollusion hat der Paartherapeut Jürg Willi derartige Partnerschaftsarrangements genannt, bei denen die unbewussten Irrwege beider Seiten so ineinander passen, dass man zwar leidet, aber sich doch irgendwie wechselseitig braucht.
1993 gab es in Deutschland eine Kampagne der Zahnärzte und dann auch der anderen Ärzte, um in der Öffentlichkeit zu erklären, dass die Ärzte zu wenig verdienen. Die Angelegenheit eskalierte. Die Ärzte überzogen ihre Aktion, so dass ihr öffentliches Image bereits Einbußen erlitt. Daher startete man eine Goodwill-Kampagne mit dem Motto: »Auch jetzt lassen wir keinen im Stich.« Das war noch ganz nachvollziehbar und wahrscheinlich auch erforderlich. Die unbeabsichtigte Offenbarung war das dafür werbende Foto: Eine große Männerhand hält am kleinen Finger die Hand eines Kleinkinds, für das dieser kleine Finger schon fast zu groß ist. Wer da die Rolle des Arztes hat und wer die Rolle des Patienten, ist sofort klar. Dass so etwas mit einem Dienstleistungsverhältnis zwischen erwachsenen Partnern nichts zu tun hat, ist ebenso evident. Ein atavistisch-patriarchales Klischee hat sich hier Ausdruck verschafft. Papa wird’s schon richten. Oder doch besser Gott? Denn es geht ja nicht nur um die väterliche Begleitung durch
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