Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
konkreten, sehr unangenehmen Nebenwirkungen der Gesundheitsreligion. Opfer dieser hemmungslosen Forderung nach der Herstellung von dem, was man für Gesundheit hält, sind im Letzten die Hohepriester dieser Religion selbst, die Ärzte. Denn das Nutzen der Marktgesetze im Gesundheitswesen überträgt zugleich die Risiken der Konsumgesellschaft auf die Gesundheitsgesellschaft. Und so konsumiert man schließlich auch die Ärzte. Das immer schnellere Wandern von einem Arzt zum anderen, das so genannte Krankenhaushopping, das Patienten durch zahllose Krankenhäuser treibt, das Phänomen der Koryphäenkiller, die bewusst oder unbewusst den Heilbringern des Gesundheitskults nachweisen, dass auch sie alle nichts taugen, das sind kostspielige, nervenaufreibende und sogar für die Patienten selbst anstrengende Symptome einer überkochenden Luxusmedizin.
3. Die Galle von Zimmer 5 ist ein Mensch – ganzheitlich in die Sackgasse
Was im Einzelnen die Projektion auf den Arzt als sakrale Gestalt ist, das ist institutionell die Projektion auf das Krankenhaus als sakrale Einrichtung. Architektonische Aspekte der Kathedralen des 20. Jahrhunderts wurden bereits besprochen. Damit sind aber auch inhaltliche Erwartungen verbunden. Es ist Mode geworden, das »ganzheitliche« Krankenhaus zu fordern. Nicht nur körperliche Leiden solle das Krankenhaus im Blick haben, sondern der ganze Mensch mit Leib und Seele müsse im Mittelpunkt stehen. Es dürfe nicht mehr von der Galle von Zimmer 5 die Rede sein. Es sei Herr Müller von Zimmer 5, mit all seinen Leiden und Nöten und eben auch mit seinem Gallenproblem. Das klingt außerordentlich gut, ist inzwischen festredentauglich und gehört zu den unwidersprochenen Glaubenssätzen der Gesundheitsreligion. Zugleich klagt man über die zunehmende Apparatemedizin, die den menschlichen Aspekt im Krankenhaus immer weiter zurücktreten lasse. Nicht dem Menschen werde gedient, sondern die Apparate würden bedient, nicht die Sorge um den Menschen, sondern die Versorgung von Krankheiten stehe im Vordergrund. Schuld daran seien jedenfalls die anderen. Je nachdem wo die Festrede gehalten wird, sind das die nur aufs Geld schauenden Krankenkassen, die nur auf Interessengruppen starrenden Politiker, die nur auf den technischen Fortschritt achtenden Krankenhausträger o.Ä. Man müsse also diese verhängnisvolle Entwicklung zurückdrehen, den Menschen wieder in den Mittelpunkt stellen, eben das ganzheitliche Krankenhaus schaffen. Klingt alles wunderbar, ist gewiss auch gut gemeint – ist nur leider völlig abwegig. Weiß im Grunde auch jeder, tut nämlich keiner, sagen aber trotzdem alle. Denn hinter dem Wort vom ganzheitlichen Krankenhaus steht letztlich die Vorstellung von der gesundheitsreligiösen Heilsanstalt, die eben nicht nur Heilung von irgendwelchen Krankheiten bewirken, sondern irgendwie so etwas wie das Heil des Menschen produzieren kann. Je pathetischer die Festrede, desto sakraler diese Zielformulierung, desto unerreichbarer, transzendenter das Ziel. Aber dann doch wenigstens Goethe: »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.« Ende, Beifall – von allen: Krankenkassenvertretern, Politikern, Krankenhausträgervertretern etc. Dann Buffet: »Schöne Ansprache … sehr tief gehend … sehr bedenkenswert …« Auffälligerweise aber keine irgendwie kontroverse Diskussion. Denn der Festredner hat eindeutig den gesundheitsreligiösen Bereich betreten. Hier herrscht strenger Blasphemieschutz. Jede kritische Bemerkung zur Festrede hätte die üblichen Reaktionen auf Gotteslästerung zur Folge. Und man weiß, was sich gehört. Allerdings, konkrete Folgen hat die Rede kaum. Das wird auch toleriert. Ermöglicht es doch bei der nächsten Feierstunde wieder ein deutliches, mutiges und klares Wort zum ganzheitlichen Krankenhaus.
Lieblingsobjekt der Kritik sind dabei übrigens die Chirurgen, jene Berufsgruppe, die sich professionell mit der »Galle von Zimmer 5« befasst. Sie stehen im Ruf, die Kommunikation mit anderen weitgehend auf die Methode zu beschränken, die sie souverän beherrschen: mit Messern in bewusstlose Menschen hineinzuschneiden. Wie im Tierreich, so gibt es auch unter Ärzten »natürliche Feinde«. Der natürliche Feind des Chirurgen ist der Psychiater, der natürliche Feind des Psychiaters ist der Chirurg. Chirurgen gehen davon aus, dass Psychiater sich von ihren Patienten nur durch den Kittel unterscheiden, und Psychiater wähnen, dass Chirurgen mit der Tätigkeit
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