Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Anhänger auf ewiges Leben durch herstellbare Gesundheit, an der kultischen Befriedigung dieser Sehnsüchte durch das Gesundheitssystem, dass für die – sichere – Frustration keine Üblichkeiten ausgebildet wurden. Außer einer – letzten: Bei Nichterfüllung – Klage. Gewiss, der Tote kann nicht mehr klagen. Aber die ihm Nahen können diesen letzten Dienst leisten, denn er ist ja im Krankenhaus gestorben und das ist doch für den Kampf gegen den Tod gebaut. Wenn jemand da stirbt, muss etwas schief gegangen sein. Gegenüber den sonstigen Kunstfehlerprozessen, die zumeist noch Lebenswillen im Kampfeswillen ausstrahlen, haben solche Prozesse oft eine makabere Tönung. Da werden etwa haftungsrechtlich die Kosten für die Beerdigungskleidung der Angehörigen geltend gemacht. Das ist dann das Ende, das endgültige Ende: Der Mensch als Akte bei Gericht, die zuletzt irgendwie abgeschlossen wird.
Die Gesundheitsgesellschaften leisten sich eine gigantische spanische Wand, hinter der mit einem gewaltigen finanziellen Aufwand, der inzwischen alle Grenzen sprengt, die Grenzen des Menschen, nämlich Leiden, Sterben und Tod, verborgen gehalten werden. Diese spanische Wand ist – das Gesundheitswesen. Doch dieses riesige Gebilde hat in jenen Grenzsituationen menschlicher Existenz keinerlei Kompetenz. Noch schlimmer, es ist sogar durch seine eigene unausdrückliche Betriebsideologie, die Gesundheitsreligion, denkbar ungeeignet, wenigstens einigermaßen unbefangen mit solchen existenziellen Lebenslagen umzugehen. Es neigt eher dazu, sie aktiv (durch leer laufende Aktivitäten, die nichts bringen) oder passiv (durch Nichtbeachtung) zu verleugnen. Die Sterilität der Krankenhäuser hat nicht nur hygienische, sondern auch psychologische Gründe. Steril abgepackt, scheinen die höchst individuellen Tragödien an den Grenzen der menschlichen Existenz, die sich da abspielen, bloß noch ein Fall von so vielen Fällen zu sein. Diese Notlüge erleichtert die Arbeit. Und das ist somit die einzig wahrnehmbare Leistung des Gesundheitswesens bezüglich dieser Grenzsituationen: das umtriebige Verbergen von etwas, das man nicht näher kennt.
Es hat unterschiedliche Formen des Protests gegen die Anmaßung des Gesundheitswesens gegeben, »letztinstanzlich« für den Tod des Menschen zuständig zu sein. Am lautesten waren diejenigen, die mit Heftigkeit den Tod aus der »Leibeigenschaft der Ärzte« befreien wollten und gegen eine Gesundheitsideologie eine Selbsttötungsideologie setzten. Damit blieben sie freilich im System. Gegen die fixe Idee der Herstellbarkeit der Gesundheit die Herstellbarkeit des Todes zu setzen bedeutet nur, mit anderer Absicht in die gleiche Sackgasse zu fahren. Die Gesundheitsreligion hat diese Bewegung inzwischen, wie oben erläutert, reibungslos integriert. Was einmal emanzipatorisch gemeint war, ist jetzt schon – in den Niederlanden – eine günstige Möglichkeit, der Gesundheitsgesellschaft definitiv Ungesundes definitiv aus den Augen zu schaffen.
Man kann es hin und her wenden, wie man will, die Ergebnisse der Gesundheitsreligion sind desaströs. Ihr flächendeckender zerstörerischer Einfluss wirkt auf jede Form der Lebenslust absolut vernichtend. Aber noch nicht einmal für ein lustloses Leben ist sie besonders hilfreich. Die totale Beanspruchung des ganzen Lebens durch gesundheitsfördernde Maßnahmen nimmt sich aussichtslos aus angesichts der Feststellung, dass nur etwa 10% aller Krankheiten überhaupt durch persönliche Lebensführung beeinflussbar sind, während 20% biologisch vorgegeben und 70% im weitesten Sinne umweltbedingt sind. Und was ist mit der Hoffnung, die der Gesundheitsgläubige aus hohlen Augen und mit gebrochener Stimme äußert, dass durch all die höchst mühsamen Segnungen der modernen Medizin doch wenigstens der Lebensaltersdurchschnitt beträchtlich gestiegen sei? Sogar sie entpuppt sich bei genauem Hinsehen als Trugbild. Die bekannte Altersforscherin Ursula Lehr hat darauf hingewiesen, dass die scheinbar gewaltige Zunahme des Lebensaltersdurchschnitts seit dem 19. Jahrhundert darauf zurückzuführen ist, dass man in die Statistik die horrende Kindersterblichkeit vor der Beherrschung der Wochenbettinfektionen mit einberechnet hat. Das ist zwar formal korrekt, vermittelt aber doch einen falschen Eindruck. Lässt man diesen riesigen Effekt der Wochenbetthygiene weg, bleibt als Ergebnis dessen, was man üblicherweise unter moderner Medizin versteht, eine erheblich geringere
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