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Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Titel: Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Lütz
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dieses Leben mit einigen guten Ratschlägen. Die Gesundheitsreligion will mehr, viel mehr. Es geht ihr um das ewige Leben, um den Sieg über den Tod, um Unsterblichkeit.
    Und an dieser Stelle richtet sich das Bild des Arztes noch einmal mächtig auf. Es bekommt die Züge von Osiris, dem ägyptischen Totengott. Der Arzt wird zur letzten geheimnisvoll-unheimlichen Instanz vor Leid und Tod. Er ist der Charon der griechischen Mythologie, der die Seelen mit dem funkelnden Blick, den Michelangelo ihm verlieh, vom Diesseits ins Jenseits über den Styx befördert, ins schattenhafte Reich des Vergessens, dem jede Lust und jedes Leben fremd sind. Alle Religionen der Welt kennen diese Letztinstanz vor dem Einzug in die Ewigkeit. Der Gesundheitsreligion, die ihre ganze Dynamik in der Geschäftigkeit des alltäglichen Gesundheitsbetriebs verbraucht, ist nichts Besseres eingefallen, als ihre allzuständigen Götter, die Ärzte, auch an diese Stelle zu setzen. Aber sie sind dafür völlig ungeeignet. Was weiß schon ein junger Assistenzarzt über den Tod und erst recht über das Sterben! Der Tod ist keine Krankheit, er ist eine existenzielle Erfahrung. Da weiß die alte Frau, die das Elend des Krieges und die Entbehrungen der Nachkriegszeit miterlebt hat und die in diesen Zeiten viele Menschen, auch Menschen, die ihr sehr nahe waren, hat sterben sehen, mehr, unendlich viel mehr. Der Assistenzarzt kennt einige Todeszeichen, Leichenflecken, Leichenstarre und so weiter. Über den Tod selbst sagt das nichts.
    In Deutschland gab es, wie schon erwähnt, eine ausführliche Diskussion über die Frage, ob der Hirntod der Tod des Menschen sei. Vor allem die Transplantationschirurgen hatten ein Interesse an klaren Verhältnissen. Sie dekretierten einfach, was der Tod sei, das zu bestimmen sei Sache der Ärzte. Dabei ist die Definition des Todes eine Sache des Menschenbilds. Wenn jemand wie Peter Singer den Menschen über seine aktuellen geistigen Fähigkeiten definiert, dann ist der definitive Ausfall dieser Fähigkeiten konsequenterweise identisch mit dem Tod des Menschen. Damit ist der Hirntod eindeutig der Tod des Menschen. Wenn aber in der christlich-abendländischen Tradition die Seele das Lebensprinzip des Organismus in seiner funktionellen Ganzheit ist, dann ist der Hirntod eben nicht so ohne weiteres mit dem Tod des Menschen identisch. Denn der Organismus des Menschen kann auch nach eingetretenem Hirntod mit geeigneter Unterstützung weiterleben, ist sogar zeugungsfähig und kann noch eine Schwangerschaft austragen. Ob der Hirntod vorliegt, das festzustellen ist Sache des Arztes. Ob der Hirntod der Tod des Menschen ist, dazu hat die Medizin keine Fachkompetenz.
    Es sagt viel über die Menschlichkeit einer Religion, wie man in ihr stirbt. Die Gesundheitsreligion lässt ihre Anhänger erbärmlich zugrunde gehen – schnell abgeschoben ins Einzelzimmer oder ins Badezimmer. Es ist fast ein wenig wie beim überhasteten Abzug der Amerikaner aus dem vom Vietkong eroberten Saigon. Jeder weiß, dass das Ende unvermeidlich ist, aber man ist dennoch nicht vorbereitet, man hat es nicht wahrhaben wollen und so wird in kopfloser Hektik improvisiert. Gewiss, die allgemeine Kritik an der Art, wie Menschen in Hospitälern ihre letzten Lebensstunden verbringen müssen, hat zu Änderungen im Krankenhaus geführt. Die liegen aber zumeist bloß an der Oberfläche. Man stattet die Einzelzimmer ein wenig besser aus: solider Abschiedszimmerstil, vielleicht sogar unter Nutzung von Symbolen der Altreligionen. Aber an der Situation des Sterbenden im Krankenhaus ändert das nichts. In den Heiligtümern der Gesundheitsreligion, den stolz aufragenden Krankenhäusern, ist das Sterben letztlich das katastrophale Scheitern des ganzen Projekts, die undankbare Beleidigung für alle rastlosen Bemühungen, die Panne schlechthin. Und man stirbt dort als Panne. Niemand gibt gerne seine Fehlschläge zu, niemand schaut da gerne hin. Und so ist die Aufenthaltsdauer von Pflegekräften im Zimmer eines Sterbenden und die Aufenthaltsdauer von Ärzten am Bett eines Patienten, bei dem man, wie es so entlarvend heißt, »nichts mehr machen« kann, nachweislich erheblich kürzer als bei anderen Patienten. Manchmal beobachtet man sie sogar direkt, die Aggression gegen den Sterbenden, der das eigene »Versagen« dokumentiert. Gewiss gilt das alles nicht in jedem Fall. Es liegt aber an den utopischen Verstiegenheiten der Gesundheitsreligion, an den hemmungslosen Hoffnungen ihrer

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