Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
des Kleinhirns auskommen, denn das Kleinhirn ist für die Koordination der Bewegungen zuständig. Alles Unsinn natürlich. Wenn aber solche Vorurteile einmal vorliegen, bestätigen sie sich immer wieder – im Sinne von sich selbst erfüllenden Prophezeiungen.
Als ich Assistenzarzt in einer psychiatrischen Abteilung war, gab es einen außerordentlich netten und kompetenten chirurgischen Kollegen im Haus, der aber ungewöhnlich einsilbig war. Er war nämlich zusätzlich noch Westfale. Chirurgen sagen wenig, Westfalen fast nichts und daher sind chirurgische Westfalen so gut wie sprachlos. So auch dieser Kollege. Eines Tages rief er mich im Dienst an. Schon das überraschte mich. Ich solle mal schnell kommen, er habe da einen Patienten, mit dem müsse geredet werden. Meine besorgte Nachfrage, ob der Kollege eine Aphasie (Sprachstörung) habe, wurde nicht beantwortet. Im Aufnahmeraum erkannte ich das Problem: Dort saß ein ziemlich betrunkener Rheinländer, der auf die knappe Bemerkung des Kollegen: »Sie müssen operiert werden«, »Nein« gelallt hatte. Sofort war der Patient dann aber bereit, sich auf nähere Erklärung hin zur Beruhigung des Chirurgen operieren zu lassen. Rheinländer neigen zur Gutmütigkeit.
An dieser Stelle wäre typischerweise der ganzheitliche Chirurg zu fordern. Doch gerade dies soll hier nicht geschehen. Ich möchte den Kollegen vielmehr verteidigen. Er war nämlich chirurgisch außerordentlich kompetent, ich hätte mich selbst von ihm ohne weiteres operieren lassen. Er redete eben nur wenig.
Nehmen wir einmal an, ich würde ins Krankenhaus eingeliefert zu einer Operation der Gallenblase. Am Abend vor der Operation käme der operierende Chirurg. Er würde sich zu mir ans Bett setzen und mir mitteilen, wie sehr er mit mir fühle. Eine Operation sei doch immer ein in jeder Hinsicht einschneidendes Ereignis, man sei ganz auf die Kompetenz anderer Menschen angewiesen, könne selbst gar nichts machen, sei ja in Narkose und auch die Narkose sei bekanntlich nie ganz risikolos … Man würde gegebenenfalls in der Nacht vor der Operation schlecht oder gar nicht schlafen. Er jedenfalls lege immer Wert darauf, dass seine Patienten wüssten, dass er mit jedem Patienten ein Stück weit mitleide, denn jeder Patient sei für ihn ein unverwechselbares Individuum, ein Mensch mit allen Höhen und Tiefen einer ganz besonderen Lebensgeschichte, der diese Gallenoperation jetzt nur noch einen weiteren Aspekt hinzufüge. So sei auch jene Gallenoperation nicht irgendeine sterile Routine, sondern sie füge sich ein in einen ganz spezifischen, ganzheitlichen lebensgeschichtlichen Kontext etc. etc. etc. Gesetzt den Fall, dieser Chirurg würde noch etwa zwanzig Minuten fortfahren, auf diese Weise mit mir zu reden, und dann nach Hause gehen, ich würde sofort meinen Koffer packen und das Krankenhaus verlassen. Ich würde ihm vielleicht noch eine Karte schreiben, in der ich ihm für seine persönliche Mühe danken würde. Aber ich würde mich von diesem Chirurgen wahrscheinlich nicht operieren lassen – ganz einfach, weil ich die Sorge hätte, dieser irgendwie rührende Mediziner würde am nächsten Tag vor lauter Ergriffenheit meine Gallenblase nicht treffen, die bekanntlich ziemlich klein ist. Was die Chirurgie angeht, bin ich sehr gerne »die Galle von Zimmer 5« – dann bin ich wenigstens sicher, dass mir die Kollegen die Gallenblase herausnehmen und nicht, was vorkommen soll, aus Versehen irgendwelche anderen Organe.
Man darf das Krankenhaus nicht mit Aufgaben betrauen, für die es nicht geeignet ist. Es ist nun einmal keine Heilsanstalt für ganzheitliches Heil. Gerade ein gutes Krankenhaus wird seriöserweise nicht behaupten, so etwas zu sein. Es ist schon viel erreicht, wenn es ein gutes Dienstleistungsunternehmen ist, das die Freiheit der Patienten nicht unnötig einschränkt, einen gewissen Service zur Verfügung stellt und über möglichst nette, vor allem aber kompetente Fachleute verfügt, die auf dem neuesten Stand ihrer Fachgebiete sind. Um Heilung von Krankheiten muss es dem Krankenhaus gehen, nicht um das Heil. Gewiss darf die Apparatemedizin nicht die Herstellbarkeit von Gesundheit suggerieren. Gewiss muss man der unangenehmen Entwicklung begegnen, dass im Krankenhaus jeder nur noch seiner hoch differenzierten Spezialaufgabe nachgeht und das Ganze, den Menschen, um den es geht, aus dem Blick verliert. Man muss demnach zweifellos der psychischen Situation des Patienten und demzufolge der
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