Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
vorgeschoben. Die Wunder schließen nämlich immer die bereitwillige Aktivität des Kranken ein: »Dein Glaube hat dich gesund gemacht« (Markus 5,34). Nicht nur die innere Bereitschaft, sozusagen eine Glaubenshaltung, war dazu nötig, sondern eine zum Teil sogar ziemlich ausgeprägte körperliche Glaubensdynamik bis fast zur Nötigung Jesu. Der blinde Bartimäus brüllt aus Leibeskräften die ganze Straße zusammen, damit Jesus ihn hört. Als man ihm bedeutet, das gehöre sich nicht, brüllt er noch lauter. Mit Erfolg: »Dein Glaube hat dich gesund gemacht!« Die unter Blutungen leidende Frau wirft sich mit Gewalt ins größte Gedränge, um wenigstens einen Gewandzipfel Jesu zu erhaschen – und wird geheilt. Der Gelähmte schreitet hemmungslos sogar zur Sachbeschädigung. Er spornt seine Träger an, wegen der verstopften Tür aufs Dach zu steigen, das Dach abzudecken und ihn dann vor Jesu Füße herunterzulassen. Nach dieser extremen und riskanten sportlichen Leistung, die allerdings für einen ziemlich unbändigen Glauben an Jesus spricht, wird er geheilt.
Hier haben wir sie nun alle versammelt: Lebenslust, Fitness, Gesundheit und Seelenheil. Das Christentum scheint da keine Widersprüche zu sehen. Und es funktioniert schon erheblich länger als die Gesundheitsreligion, die demgegenüber eher eine Eintagsfliege ist, allerdings ein schnell wachsender Riesenbrummer. Die ersten christlichen Gemeinden überließen die Gesundheit nicht der Krankenkasse, sondern kümmerten sich selbst darum. Schon der Apostel Paulus erwähnt im ersten Brief an die Gemeinde von Korinth die »Fähigkeit zu heilen« (12,9) als Gabe des Heiligen Geistes, die die Gemeinde hoch schätzen soll. Die altrömische Kirchenordnung des 3. Jahrhunderts kannte das Gemeindeamt des Exorzisten. Das hatte nichts mit dem heutigen Begriff zu tun. Der Exorzist kümmerte sich de facto vor allem um die psychisch Kranken der Gemeinde.
1. Abschied vom Absoluten
Letztlich war man aber immer der Auffassung, dass alle Heilungskräfte aus der Kraft Jesu Christi, also von Gott stammten. »Einer ist der Arzt«, sagt schon im 2. Jahrhundert der heilige Ignatius von Antiochien und meint damit Christus. Christus, der Arzt! Dieses Bild der alten Kirchenväter schließt jede christliche Verachtung der Gesundheit aus. Und Ephräm der Syrer formuliert es im 4. Jahrhundert geradezu hymnisch: »Preis der himmlischen Barmherzigkeit, die sich zu den Erdenbewohnern herabließ, damit die kranke Welt durch den Arzt, der auf ihr erschien, geheilt würde.«
Damit ist aber zugleich gesagt, dass das Christentum, was seine Bemühungen um die Gesundheit betrifft – und man hat sich in 2000 Jahren bis heute immens um diesen Bereich gekümmert –, immer nur eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung war. Alle menschlichen Bemühungen wurden auf die Heilung menschlichen Leidens gerichtet, aber man war sich bewusst, dass es menschliche Bemühungen blieben, die niemals absoluten, sondern nur menschlichen Erfolg haben konnten, Heilungserfolg. Das machte realistisch und bescheiden. Zugleich aber glaubte man, dass all diese Heilungsbemühungen von Gott getragen wurden und dadurch sogar mit dem Heil zu tun hatten. Das machte Hoffnung.
Diese Haltung verhinderte leer laufende Überaktivitäten und gab Gelassenheit, die nicht mit verantwortungsloser Lässigkeit verwechselt werden darf. Nie durfte eine moderne Untersuchung oder Therapie unterlassen werden, wenn der Patient sie wünschte und sie Hilfe versprach. Mit vorschnellen Vertröstungen auf das ewige Leben war da nichts zu machen. In diesem Sinne war eine nicht-fundamentalistische »Ethik des Heilens«, die Respekt vor der Würde jedes menschlichen Wesens hatte, immer christliche Maxime. Die gewaltigen Schätze der jüdischen und islamischen Erfahrungsmedizin nahm man schon im Mittelalter ohne irgendwelche Berührungsängste mit großer Wissbegier auf, um sie zugleich mit den philosophischen Einsichten der Griechen zum Wohl der Menschen zu nutzen. Die christliche Medizin strebte nicht nach utopischem absolutem Erfolg und nicht nach ewigem Heil. Sie bemühte sich um eine Perfektion der Vorläufigkeit und um das Menschenmögliche. Sie wusste immer, dass es mehr und Wichtigeres gab als Medizin. Die Gesundheit ist ein hohes Gut, aber nicht das höchste. Damit war in den medizinischen Dampfkessel ein Überdruckventil eingebaut, das das Überkochen verhinderte. So paradox das klingt: Das religiös-christliche Fundament hielt das
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