Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
machen will, sollte mal einen herzhaften Griff in die reiche Schatztruhe christlicher Spiritualität tun: Hildegard von Bingen und die Frauenmystik des 13. Jahrhunderts, Birgitta von Schweden und Teresa von Avila, Meister Eckehart und Ignatius von Loyola. Das ist ein Griff ins pralle Leben und nicht ausgedachtes esoterisches Plastikspielzeug.
Schon die alten Kirchenväter dachten ganzheitlich. Sie schrieben den Sakramenten psychosomatische Wirkungen zu. Auch der modernen Medizin ist übrigens der Gedanke der Ganzheitlichkeit nicht mehr fremd. Man erkannte, dass eine Medizin, die nur die körperlichen Aspekte des Menschen sieht, zu kurz greift. Es entstand die Psychosomatik, die die Wechselwirkungen zwischen Seele und Körper diagnostisch und therapeutisch mit berücksichtigt. Dennoch ist der manchmal verwendete emphatische Titel Ganzheitsmedizin für die Psychosomatik irreführend, denn um wirkliche Ganzheitlichkeit handelt es sich natürlich nicht. Die Psychosomatik ist keine Religion, sondern sie hat es mit den durch somatische und psychotherapeutische Methoden manipulierbaren Aspekten von Psyche (Seele) und Soma (Körper) zu tun. Damit bleibt sie letztlich von des Gedankens Blässe beherrscht und immer noch eher an der Oberfläche. Wahrhaft vitale Ganzheitlichkeit berührt den Menschen existenziell, betrifft den Sinn seines ganzen Lebens und nicht nur Heilung, sondern Heil. Das gibt es nicht auf Krankenschein, dann schon eher auf einer Wallfahrt.
Und auf einer Wallfahrt spielt noch ein weiterer Aspekt eine Rolle, der sonst allzu oft ausgeblendet wird. Heilung und Heil haben auch mit Gemeinschaft zu tun. Eine Wallfahrt ist in der Regel eine Gemeinschaftsveranstaltung. Und hier kommt dann doch die in diesem Buch bisher so schlecht behandelte Weltgesundheitsorganisation zu Ehren. Denn natürlich hat sie Recht, auch auf das soziale Wohlbefinden als Gesichtspunkt der Gesundheit aufmerksam zu machen. Wer das nicht berücksichtigt, verengt den Blick nur auf den individuellen Patienten und verkennt viele Leidensphänomene diagnostisch und therapeutisch. Die Gesundheitsreligion privatisiert das Heil. Auch die Esoterik tut das. Wer der Esoterik erliegt, interessiert sich nur noch für seine Sterne, für seine Karten, für seine Zukunft und der Gesundheitsgläubige nur noch für seine Laborwerte, seine Prognose, also seine Gesundheit. Wer auf diese Weise ganz für sich allein Glück sucht oder Lebenslust, für den ist das eine bunt tapezierte Sackgasse. Nebenbei hat eine solche Entwicklung zu immer mehr Egoismus eine verheerende entsolidarisierende Wirkung auf die Gesellschaft. Die Hochreligionen hatten demgegenüber immer einen sozialen Impetus. Gerade die katholische Kirche legt besonderen Wert darauf, dass das Heil nur in einer Gemeinschaft zu erfahren ist, der Kirche. Christ ist man für andere, heißt ein Leitspruch des Alexianer-Ordens.
4. Emanzipation von der Tyrannei
»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«, definierte Kant die bekannteste Befreiungsbewegung der Neuzeit. Der Tyrannei der Gesundheitsreligion muss mit Aufklärung begegnet werden. Das Christentum ist da, wie wir schon sahen, als Emanzipationsbewegung sehr gut geeignet. Wie man gegen die Vergötterung von Ärzten vorgeht, dazu müsste eine Religion, die sich partout weigerte, vor Kaiserbildern zu opfern, einige gute Ratschläge bereithalten. Auf diese Weise kann das Christentum dazu beitragen, den Gesundheitssklaven wieder den aufrechten Gang beizubringen. Freilich kann es da auch lustige Pannen geben. In einer bibeltreuen evangelischen Einrichtung las ich unweit des Arztzimmers den Spruch: »Dein Gott, der Arzt«. Auch wenn das ein Zitat aus dem Alten Testament ist und sich auf den hilfreichen Gott Jahwe bezieht: Im Zeitalter der Gesundheitsreligion ist das auf amüsante Weise missverständlich. Der Arzt selbst hat im Alten Testament bisweilen einen eher schweren Stand: »Wer gegen seinen Schöpfer sündigt, gerät dem Arzt in die Finger«, heißt es im Buch Jesus Sirach. Aus alldem kann man schließen: So viel Arzt wie nötig, so wenig wie möglich. Das nützt der Lebenslust.
Emanzipation geht aber nicht bloß theoretisch, Emanzipation muss praktisch geschehen. Die vor allem christlich inspirierte Hospizbewegung hat sich erfolgreich darum bemüht, den Tod aus der »Leibeigenschaft der Ärzte« zu befreien. Da Sterben und Tod keine Krankheiten sind, haben sie im Krankenhaus keine Heimat. So hat die
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