Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Gnade, wie die alte Theologie das nennt. Man spricht davon, gute Gesundheit sei ein Gottesgeschenk, man spricht von begnadeter Schönheit und Anmut etc. Dennoch tut man etwas dafür, denn Weltverachtung und Fatalismus sind, wie wir sahen, dem Christentum fremd. Allerdings, was man tut, tut man mit Maßen. Nicht alles erhofft man von der Medizin, sondern vieles, nicht alles von der Kosmetik, sondern manches, denn alles erhofft man von Gott. Das vermindert die Hektik. Das steigert die Lebenslust an dem, was man hat und auf diese Weise genießen kann, ohne sich irgendwie durch ein nicht erreichtes absolutes Ziel die Stimmung verderben zu lassen.
3. Ganzheitlichkeit als Ereignis
Der katholischen, mehr agrarischen Tradition war das Genießen immer sehr nahe. Wer von den Früchten der Schöpfung Gottes lebt, dem ist nicht das Herstellen von Produkten, sondern das Ernten von Gottesgaben in Fleisch und Blut übergegangen. Der Gründer der modernen Soziologie, Max Weber, beschreibt demgegenüber jenen millionenschweren calvinistischen Industriellen, dem der finanzielle Verdienst nichts als Zeichen seiner Erwählung war und der von seinem Arzt köstliche Austern verschrieben bekam. Er, der sonst nur spartanisch lebte, war erst nach langem Überreden dazu zu bringen, die Austern zu essen – der Gesundheit zuliebe. Ein Jammer für die Austern!
Da lobt man sich doch eine katholische Wallfahrt. Auch dabei geht es um die Gesundheit, aber auf ziemlich lebensfrohe Art. Das Bild einer genussvollen bayerischen Wallfahrt wurde bereits gezeichnet. Die Wallfahrt ist ein wirklich ganzheitliches Ereignis von Körper, Geist und Sinnen. Hier geht es wahrhaftig um Heil und Heilung zugleich, allerdings in einer Ausgewogenheit, die jeden Überschwang vermeidet. Eine Wallfahrt ist zunächst ein intensiver innerer Vorgang, ein geistiger und geistlicher Weg zu Gott. Zugleich ist es ein intensiver körperlicher Vorgang, ein geografischer Weg, auf dem man seinen Körper zu einem bestimmten Ort, dem Wallfahrtsort, schleppt. Viele erwarten körperliche Heilung dort, viele geistige und geistliche Hilfen auf ihrem Weg durch das Leben. Und immer geht es ums Heil, nicht bloß um Heilung, um die Erlösung, nicht bloß um Lösung von Lebensproblemen. Auf diese Weise ist eine Wallfahrt auf geradezu exemplarische Art eine ganzheitliche christliche Veranstaltung, die Leib und Seele zusammenhält, Göttliches und Menschliches, Lebenslast und Lebenslust. Die Heilungswunder in Lourdes, dem meistbesuchten Wallfahrtsort der katholischen Kirche, werden mit ausgesprochener Nüchternheit von der Kirche geprüft. Übertriebener Wundergläubigkeit stand die katholische Kirche immer skeptisch gegenüber. Nur äußerst selten wird ein Wunder wirklich anerkannt und selbst dann muss das kein Katholik glauben. Dass dennoch so viele kommen und erfüllt wieder nach Hause fahren, zeigt, dass es hier um etwas anderes geht als um durch eine Wallfahrt herstellbaren gesundheitlichen Erfolg. Auf einer Wallfahrt wird eben nichts hergestellt. Und deswegen muss es auch nicht vor Ort anwesende Psychoexperten geben, die dann, wenn der »Erfolg« ausbleibt, seelischen Beistand für verzweifelte Wallfahrer leisten müssten. Dennoch geht es auch um die Gesundheit, sogar ganz konkret. Eine solche tätige Gelassenheit, die nichts erzwingen will, weil sie nichts erzwingen muss, und die dennoch bereit ist, alles Menschenmögliche zu tun, wäre eine ausgesprochen heilsame Haltung für das Gesundheitswesen. Um die Haltung, nicht um die Mittel von Lourdes geht es. Selbst in kirchlichen Kreisen wäre niemand jemals auf den Gedanken gekommen, die Hospitäler durch Lourdeswasserbehandlungshäuser zu ersetzen. Die Nutzung aller modernen Methoden der Medizin war immer christliche Maxime.
Aber das war eben nicht alles. Die heilbringende Kraft des Fleisch gewordenen Gottes erbitten Christen im Gedächtnis an die Wunder Jesu auch für die leibliche Gesundheit. Vor lauter Mitmischen im Gesundheitsgetriebe ist das manchmal etwas in Vergessenheit geraten. Der Theologe Eugen Biser warnt: »Die Wunder Jesu sind in die Hände der Ärzte gefallen«, und meint damit, dass die Christen selbst sich nicht bloß als eine Seelenheilgemeinschaft missverstehen dürften. Sören Kierkegaard vertiefte die ganzheitliche Sichtweise existenziell: Man müsse Jesus und seine Hilfe »unmittelbar als die heilende Antwort auf die menschliche Existenznot« wieder erlebbar machen. Wer diese ganzheitliche heilende Erfahrung
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