Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
erniedrigt zwar nach unserer bisherigen Berechnung den Prozentsatz an lebenslustfreier Zone, mehr absolute Lebenslustzeit bringt das aber nicht. Außerdem fördert die immer wieder sich stellende Frage, ob man sich der Gesellschaft noch zumuten kann, auch nicht gerade die Lebenslust. Das Ganze kann eine gewisse Zeit reibungslos so laufen. Soziale Unruhen wären aber auf Dauer wohl kaum zu vermeiden. Auch auf solche Verhältnisse ist ja der rebellische Reim Bert Brechts anwendbar: »Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht und man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.« Möglicherweise wollen dann doch einige bald wieder »zur Sonne, zur Freiheit«. Die schattenlose Sozialutopie ist im Grunde eine Horrorvision.
Immer wieder ist im Übrigen auch ganz persönlich der Versuch gescheitert, ohne Schatten zu leben. Das gleißende Licht der zudringlichen Öffentlichkeit hat Menschen wie Marilyn Monroe das Leben gekostet. Auch scheinheilige Menschen, die nach außen ein schattenloses Bild bieten, verrotten innerlich und verpassen ihr Leben. Die Romanliteratur hat sich solcher tragischen Schicksale angenommen. Für jeden Einzelnen ist eine Gesellschaft, die den Schatten verachtet, eine persönliche Katastrophe und an Lebenslust ist dabei gar nicht zu denken.
Hinzu kommt, dass er unvermeidbar ist, dieser Schatten. Der Philosoph Karl Jaspers hält gerade solche Situationen wie Behinderung, Krankheit, Schmerzen, Leiden, Alter und Sterbephase für höchst bedeutsam und nennt sie unausweichliche Grenzsituationen menschlicher Existenz. Jeder Mensch erlebt sie irgendwann einmal im Leben als schmerzliche Grenzen seines Daseins, und wie er ihnen begegnet, daran entscheidet sich alles, daran entscheidet sich, ob ein Leben existenziell gelingt oder nicht. Vor diesem Hintergrund wirkt es geradezu lächerlich, nur mit einer Wegmach-Mentalität auf die Grenzsituationen zu reagieren. Man würde buchstäblich vor sich selbst fliehen, wollte man ernsthaft den Versuch machen, den Grenzsituationen zu entkommen. Letztlich kann dieser Versuch niemals gelingen, denn unerbittlich holen diese Situationen den einzelnen Menschen ein. Jede Flucht ist zwecklos. Man kann nur wählen, ob man ihnen vorbereitet oder unvorbereitet begegnet, sich ihnen stellt oder ihnen erliegt und damit das Leben bewältigt oder es verpasst.
II. Lustvoller Perspektivwechsel – die Entdeckung der Wirklichkeit
Wie das Wild den Schatten flieht, so den Grenzsituationen zu entfliehen und ins Licht zu rennen, diesem allgemeinen Trend liegt ein fundamentaler Irrtum zugrunde. Dadurch dass man Behinderung, Krankheit, Schmerzen, Leiden, Alter und Sterben als düsteres, Schrecken erregendes Schicksal fürchtet, schaut man weg davon. Der Scheinwerfer der Aufmerksamkeit ist auf anderes gerichtet. So ist das Dunkel, das über jenen Zuständen lastet, selbst produziert. Was aber würde passieren, wenn wir etwas ganz Ungewöhnliches tun, nämlich diese Schattenseiten unserer Existenz aufklärerisch ins Licht rücken würden? Sind sie wirklich so schwarz, wie es im Schatten den Anschein hatte? Sind sie wirklich nur unbedingt zu vermeidende, kostenträchtige Defizite?
Was wäre denn, wenn es gelänge, die unausweichlichen Zeiten von Behinderung, Krankheit, Schmerzen, Leiden, Alter und Sterben nicht als Einschränkungen eines Lebens zu verbuchen, sondern sogar für die Lebenslust auszubeuten? Das klingt mal wieder fast gesundheitsblasphemisch, aber so etwas ist der Leser ja schon gewohnt. Und schließlich ist das unstreitig die einzige Möglichkeit, um aus jenem 9,82%-Gefängnis auszubrechen, in das die Lebenslust eingesperrt scheint.
Die moderne Psychotherapie hat für einen solchen Perspektivwechsel spannende Methoden entwickelt. Denn lange schon war aufgefallen, dass die Konzentration allein auf die Probleme des Patienten den Hilfe suchenden Menschen oft noch mehr in seine Depression hineinstößt. Dennoch sind die Probleme ja nicht wegzudiskutieren. Wegzuschauen und einfach positiv zu denken hilft dauerhaft auch nicht weiter. Man kann nicht nur mit der rosa Brille durchs Leben gehen. Der berühmteste Psychotherapeut des 20. Jahrhunderts, der Amerikaner, Milton Erickson, hat daher eine ungewöhnliche Methode entwickelt. Er pflegte die Probleme des Patienten nicht zu betrauern und zu beklagen, sondern auf geniale Weise zu nutzen: als Ressource, als Material für eine Lösung. Ein Problem utilisieren heißt das wissenschaftlich.
Es kommt also auf
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