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Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Titel: Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Lütz
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Gespräch an Fahrt. Auch bezüglich des Kaufens stellt Burkhard hemmungslos die »Warum-Frage«. Der Polizist wird lockerer, da Burkhard unverändert von entwaffnender Freundlichkeit ist, und läuft nun seinerseits zur Hochform auf. Es entspinnt sich ein Gespräch über den Sinn des Geldes an sich, die hohen Preise und über die hungrigen Kinder des Beamten. Zwischenzeitlich lässt Burkhard immer wieder die mitfühlende Bemerkung »Immer arbeiten!« einfließen, die jetzt zu einer fast kollegialen Atmosphäre führt und erstaunlich offenherzige Bemerkungen des Staatsdieners über seine Arbeitszufriedenheit im Allgemeinen und den Stress am heutigen Tag im Besonderen zur Folge hat. Inzwischen ist das Polizeiauto von einer Menschentraube umlagert. Das Publikum ist begeistert. Schließlich ruft Burkhard mit großer Geste und heiterster Miene in die Menge: »Polizei, Polizei, alle verhaften!« Allgemeine Heiterkeit, Beifall, Burkhard genießt seinen Auftritt. Jetzt drängen aber die Mitglieder der Gruppe zum Aufbruch. Großes Bedauern allerseits. Herzlichste Verabschiedung von den Polizisten, die mit erheblich fröhlicherer Miene als zuvor zurückbleiben.
    So etwas bringt nur Burkhard zustande. Niemand ist stehen geblieben, um einem »armen, behinderten Menschen« ein wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Man hat sich vielmehr köstlich unterhalten. Und ganz sicher nicht auf Kosten von Burkhard, sondern auf Betreiben von ihm. Ein wirklich witziger und komödiantischer Behinderter hat selbstverständlich genauso Anspruch auf das herzliche Lachen des Publikums wie ein Nichtbehinderter mit vergleichbaren Fähigkeiten.
    An diesem Abend ging die Gruppe in die Oper. Burkhard sorgte nach Beginn der Aufführung durch leise knappe Kommentare des Geschehens zunächst für leichtes Zischen umgebender Opernliebhaber. Die Gruppe war schon etwas besorgt. Doch dann kam der Durchbruch, als Burkhard bei Dunkelheit auf der Bühne plötzlich: »Polizei, Polizei, alle verhaften«, in das feine Opernhaus rief. Den Gruppenmitgliedern erstarrte das Blut in den Adern. Das Publikum aber begriff nach einigen Schrecksekunden, was da Ungeheures geschehen war, war höchst amüsiert, änderte auf der Stelle seine Reaktionsweise und stachelte Burkhard nun zu weiteren Kommentaren an, was von den Gruppenmitgliedern mit großer Mühe verhindert werden konnte. In der Pause konnte man jedenfalls Burkhard beobachten, der strahlend auf ein Gruppenmitglied zukam mit dem begeisterten Ausruf: »Ich liiiiiebe Oper!« Er ist übrigens wirklich sehr musikalisch. Bei einem Operettenbesuch befand er sich in der Proszeniumsloge neben der Bühne, die vom gesamten Zuschauerraum aus sichtbar ist. Von dort aus begann er, die heitere Operette mit präzisen, weit ausladenden Gesten zu dirigieren. Dem Publikum entging das nicht und man war ausgesprochen amüsiert. Dem Orchester wiederum fiel auf, dass die Aufmerksamkeit etwas von der Bühne abgezogen wurde, und man schaute hinauf zu den zwei kraftvollen Armen, die den Takt gaben. Als der Dirigent das nun auch merkte, verschränkte er die Arme und zeigte für alles Weitere auf die Proszeniumsloge. Es war ein Segen, dass Dirigenten von Operetten in der Regel über Humor verfügen.
    Doch auch im ganz Ernsten kann Burkhards Behinderung eine Fähigkeit sein. Als die Gruppe mit israelischen Austauschgästen das Konzentrationslager Bergen-Belsen besuchte und man von den Gräueltaten an Juden und auch an Behinderten erfuhr, zeigte sich bei allen eine tiefe Erschütterung. Bei den jüdischen Gästen und bei den Behinderten der Gruppe war diese Erschütterung noch tiefer, da sie sich in besonderer Weise mit den Opfern verbunden fühlten. Es entstand zwischen den jüdischen und den behinderten Mitgliedern der Gruppe plötzlich eine intensive emotionale Verbindung, so dass die Nichtbehinderten fast ein wenig abseits standen. Den entscheidenden Anteil an der internationalen Jugendbegegnung mit den Israelis hatte im Übrigen wieder Burkhard. Als die jüdischen Gäste abflogen, konnten sie nach wie vor so gut wie kein Deutsch – aber so gut wie alle Sprüche von Burkhard. Und am Flughafen verabschiedeten sie sich in heiterster und herzlichster Stimmung mit dem Ausruf: »Polizei, Polizei, alle verhaften!«
    Burkhard ist ein Ausbund an Lebenslust. Er ist gewiss ein Glücksfall, aber kein Einzelfall. Behinderte sind farbigere und intensivere Menschen als durchschnittliche Normopathen. Das hat damit zu tun, dass Behinderte nicht weggaffen

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