Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
einen Versuch an, in den Grenzsituationen menschlicher Existenz mit Paul Watzlawick zumindest »das Gute des Schlechten« zu suchen. Noch spannender könnte es aber werden, wenn es gelänge, auf den Spuren Milton Ericksons diese angeblichen Defizite eines Lebens als Ressource zu utilisieren, also sogar als Chance des Lebens zu nutzen. Damit wäre sie dann tatsächlich gesprengt, die Einzwängung der Lebenslust auf engstem Raum von 9,82% Lebenszeit. Lebenslust könnte zu einem wirklichen Lebensthema werden und nicht bloß zum Hobby für allzu seltene Stunden, die doch unter der Last des unbarmherzig drohenden Schicksals immer etwas Künstliches hätten.
Voraussetzung für einen solchen lustvollen Perspektivwechsel ist die Entdeckung des Lieblingsthemas der Lust, nämlich der Wirklichkeit. Die Lust hat nichts im Sinn mit Abstraktion, Utopie und bloßer Theorie. Pralle Lebenslust scheut die Blässe des Gedankens. Der Gesundheitsreligion fehlt diese Liebe für die Wirklichkeit, das Lebenselixier der Lust. Sie liebt ihre Ziele, und die sind abstrakt. Gesundheit ist für sie bloß ein theoretischer Begriff, dem niemand in der Wirklichkeit genügt, und das so ersehnte unendliche Leben ist eine unerfüllbare Utopie. Die Gesundheitsreligion lebt von der Sehnsucht, dass die Dinge so und so sein sollten. Die Lust lebt vor allem davon, was ist. Darüber hinaus spaltet die Gesundheitsreligion Körper und Geist. Lust ist aber ein ganzheitliches Geschehen. Nur so ist zu erklären, warum die Körperbetonung der Fitness-, Wellness-, und Gesundheitsbewegung wider Erwarten keinen Lustgewinn bringt. Die künstliche Fixierung auf nur einen Aspekt des Menschen, den Körper, ist nämlich auch abstrakt und sorgt für die Gefahr geistiger Vertrocknung im Fitnessstudio. Deswegen wirkt der Körperkult geradezu lusttötend. Bekannt ist die Verdammung jeglicher Erotik in der FKK-Bewegung. Bei den gleichen Menschen, die dem Körperkult huldigen, treibt dann aber oft der abgespaltene Geist seine eigenen Kapriolen. Da ist man dann ganz selbstverständlich für Leihmutterschaft. Das heißt, eine Frau lässt sich für die biologische »Arbeit« einer Schwangerschaft von einem Ehepaar, das auf natürlichem Weg keine Kinder bekommen kann, anmieten. Nur der geistige Aspekt zählt hier plötzlich, der – geistige – Wunsch der Eltern nach einem Kind. Dass der körperliche Vorgang in der Leihmutter seine eigene Würde hat und nicht einfach zu noch so guten geistigen Zwecken ausgenutzt werden darf, das sehen diese sonst so körperbetonten Menschen nicht. Sie können nicht wirklich ganzheitlich denken. Die eine ideologische Einseitigkeit hat die andere ideologische Einseitigkeit zur Folge. Ganzheitliche Lebenslust hat bei solchen maßlosen Abstraktionen und Manipulationen der Wirklichkeit natürlich keine Chance.
Alle Ideologien hatten freilich mit der Lust ein Problem, denn Lust findet nicht am Schreibtisch oder im Philosophieseminar statt, sondern eben da, wo ganz unberechenbar das wirkliche Leben spielt und wo nicht getrennt wird zwischen Körper und Geist. Im wahren Leben geht es nämlich wahrhaft ganzheitlich zu. Die Grenzsituationen menschlicher Existenz haben glücklicherweise diesen intensiven Geschmack ganzheitlicher Wirklichkeit. Behinderung betrifft immer den ganzen Menschen, die körperliche Behinderung betrifft auch die geistige Existenz des Menschen, die geistige Behinderung auch die körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten. Krankheit ist immer ein Einschnitt in die gesamte Lebensgeschichte. Wer einmal wirklich starke Schmerzen erlebt hat, weiß, wie der Schmerz ganz von einem Besitz ergreift. Menschen, die leiden, denen schlägt das oft auf den Magen. Das Alter betrifft ebenso selbstverständlich den ganzen Menschen wie Sterben und Tod. Die Grenzsituationen des Menschen liegen unvermeidlich mitten im wirklichen Leben und nur da kann Lebenslust, wenn überhaupt, gesucht und gefunden werden.
Sollte das aber nicht auch ein etwas utopisches Projekt sein? Bei allem Respekt vor den ungewöhnlichen Perspektiven und großen Erfolgen modernster Psychotherapie: Ob ausgerechnet jene verachteten Grenzsituationen als Ressourcen, als Chancen eines Lebens gesehen werden können und ob Lebenslust da noch eine Rolle spielt? Wenn es aber tatsächlich so wäre, dann ergäbe sich eine überraschende Antwort auf die Frage, »wie man länger Spaß am Leben hat«. Denn schon rein zeitlich wäre das ein gigantischer Durchbruch.
1. Behinderung als Fähigkeit
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