Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Hospizbewegung den Weg hinaus aus den Heiligtümern der Gesundheitsreligion angetreten. Sie sorgt sich um Orte, die der Diktatur der Gesundheitsreligion entzogen sind und wo man in Geborgenheit sterben kann. Diese Emanzipation des Sterbens bedeutet in der Tat eine Revolution in den Machtverhältnissen. Im Krankenhaus bestimmt im Wesentlichen der Arzt. Im Hospiz bestimmt der Sterbende. Wie und wo jemand sterben will, das sollte er, wenn irgend möglich, selbst entscheiden. Wohlgemerkt: sterben, nicht getötet werden. Das ist eine konkrete Umsetzung des hehren Gedankens der Menschenwürde. Aber auch im Krankenhaus gilt: Bitte um genaue Information oder der ausdrückliche Verzicht darauf können den Patienten aus der Unmündigkeit befreien. Ebenso kann der Wunsch, man möge weitere Diagnostik und Therapie unterlassen, im Einzelfall ein emanzipatorischer Akt sein. Nicht Lebensverlängerung um jeden Preis ist christliche Maxime. Wer den Sterbenden in Würde und möglichst ohne Schmerzen sterben lässt, vermeidet die Versuchung, dass eine überaktive Medizin auf ihre eigene Überaktivität mit Überaktivität antwortet – mit der Giftspritze. Man sagt, die größere Gelassenheit des mittelalterlichen Menschen gegenüber Leiden, Sterben und Tod hänge damit zusammen, dass er verschwenderischer mit der Zeit umgehen konnte, weil er in seinem subjektiven Erleben erheblich länger gelebt habe als heutige Zeitgenossen, nämlich eigene Lebenszeit plus ewiges Leben. Heute sei das ganze Leben in die eigene Lebenszeit auf dieser Welt zusammengepresst. Danach gebe es für diese Menschen nichts mehr. Das trage dazu bei, dass niemand mehr Zeit habe und im Gesundheitsbereich ein so aufreibender Druck herrsche. Von diesem Druck könnte das Christentum befreien. Denn die Gelassenheit des mittelalterlichen Menschen lag nicht am Mittelalter, sondern am Christentum.
5. Die Frage aller Fragen und die Antwort des Ketzers
Spätestens an dieser Stelle, lieber Leser, werden Sie sich vielleicht skeptisch fragen, ob etwa die Lösung des Gesundheitsproblems darin bestehen soll, dass alle einfach bekennende Christen werden. Ein solcher irgendwie rührender Vorschlag wäre wohl ziemlich abwegig. Hier wurde nur die ein oder andere Haltung, die hilfreich sein könnte, am Beispiel des Christentums durchgespielt. So etwas ist also auch für aufgeschlossene, vorurteilslose Atheisten gedacht – die Atheisten bleiben.
Allerdings ist es für Christen selbst ziemlich schwierig herauszufinden, wer wirklich Atheist ist. Denn es gibt eine Stelle im Neuen Testament, die für Jammerchristen, welche die unchristlichen Zeiten beklagen, außerordentlich ärgerlich ist. Bedauerlicherweise ist die Stelle von zentraler Bedeutung, so dass man sie nicht einfach übergehen kann: Als die unkonventionellen Reden und Taten Jesu das Establishment schon ziemlich aufgemischt hatten, kamen einige böswillige Intellektuelle zu Jesus, stellten ihm Fangfragen und einer ging schnurstracks auf die Frage aller Fragen los: »Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen?« Die Lage war gefährlich. Es war die alles entscheidende Frage, zweifellos. Was die political correct Antwort war, war auch klar: Konsequent Jude sein. Aber das sagte Jesus nicht. Fast wie Sokrates, der die Menschen stets bei ihren eigenen Überzeugungen abholte, fragte Jesus zunächst zurück: »Was sagt das jüdische Gesetz dazu?« Der schriftkundige Intellektuelle antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Denken und deinen Nächsten wie dich selbst.« Und Jesus sagte: »Tu das!« Damit war die Kuh vom Eis. Jesus hatte eigentlich nichts gesagt, nur an die Heilige Schrift appelliert. Doch was ein richtiger Intellektueller ist, der merkt so etwas. Und so ergriff er wieder das Wort und jetzt stellte er die Frage, die die Frage aller Fragen schlagartig aus dem theologischen Seminar mitten ins pralle Leben bringt: »Wer ist mein Nächster?« Die Lage war nun ausweglos, Jesus musste antworten, und zwar konkret. Und was er jetzt sagen wird, ist nicht mehr und nicht weniger als seine zentrale Botschaft fürs tägliche Leben. Aber wieder antwortet er nicht direkt. Er erzählt die Geschichte vom barmherzigen Samariter. »Ein Mann ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber …« Ein – jüdischer – Priester kam vorbei und half nicht. Ein –
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