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Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Titel: Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Lütz
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beträgt die Zeit ohne Behinderung, Krankheit, Schmerzen, Leiden, Alter und Sterbephase, die für Spaß sehr theoretisch zur Verfügung stehen könnte, bei einer angenommenen Lebenszeit von 75 Jahren – eher geschönt – nur etwa 9,82% der ganzen Lebenszeit. Ein wirklich erschütterndes Ergebnis. Mindestens 90,18% des Lebens sind lebenslustfreie Zone.
    Nun haben wir uns bemüht, diese 9,82% der Lebenszeit durch das bisher Gesagte von den lästigen Mühsalen der Gesundheitsreligion zu befreien und damit der Lebenslust wieder mehr Raum zu verschaffen. Wir haben auch schon den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit auf Bereiche gerichtet, die der Lebenslust außerordentlich förderlich sind. Aber auf diese Weise kommen wir auch im besten Fall nicht über jenes hässliche Sperrgitter von 9,82%, das jede mögliche Lebenslust auf engstem Raum einzwängt. Hand aufs Herz, wer würde Eintritt für eine Veranstaltung bezahlen, bei der er vorher weiß, dass sie allerhöchstens 9,82% der Zeit Spaß macht?
    Es hilft also alles nichts: Wenn das Projekt Lebenslust, um das es hier geht, wirklich weitergebracht werden soll, müssen wir die Einschnürung der Lebenslust auf höchstens 9,82% Lebenszeit sprengen. Und genau darum geht es nun.
    Behinderung, Krankheit, Schmerzen, Leiden, Alter und Sterbephase gelten auf je unterschiedliche Weise als lästige Probleme und sind jedenfalls nichts, was ein Mensch anstrebt. Ausgenommen vielleicht das Alter, wird man keines davon irgendeinem Menschen wünschen. Gewöhnlich werden all diese Zustände als Defizite angesehen und üblicherweise haben die westlichen Gesellschaften Mittel und Methoden entwickelt, solche Probleme möglichst überhaupt zu verhindern oder wenigstens diskret irgendwie aus dem Gesichtsfeld zu befördern, wegzumachen oder zu entsorgen. Behinderte lässt man mit den Mitteln guter Sozialunterstützung – das ist einem der Sozialstaat wert – in gut betreuten Behindertenheimen verschwinden. Das ist aber nur die Notfalllösung. Der Normalfall wird bald sein: Verhinderung von Behinderung durch Verhinderung von Behinderten – Tötung mit anderen Worten – nach wissenschaftlich präzisen vorgeburtlichen diagnostischen Maßnahmen wie Präimplantationsdiagnostik oder, später und mühsamer, Pränataldiagnostik: »Wissen Sie, ein behindertes Kind, das muss doch heute nicht mehr sein!« Krankheiten macht man weg mit Antibiotika, Salben, Ärzten und überhaupt dem ganzen horrend teuren Krankheitsapparat. Schmerzen vernichtet man mit Schmerzmedikamenten und anderen ausgefeilten Therapien. Leiden schafft man aus der Welt, indem man es in Kitschpäckchen abgepackt in Soap-Operas auf die Bühne befördert und den Rest über Telefonseelsorge und Selbsthilfegruppe entsorgt, wofür ab und zu staatliche Orden verliehen werden. Alter erhält eine differenzierte und präzise, kontinuierliche Versorgung: Man macht es weg durch Gesichtscreme, Gesichtsschminke und endlich durch Gesichtschirurgie. Wenn das nicht mehr ausreicht, befördert man es rentenunterstützt durch Altersheime aus dem Gesichtsfeld, und wenn das zu teuer wird, eröffnet sich demnächst die niederländische Lösung für alle: Kommissionsunterstützte Entsorgung durch die gute Spritze. Euthanasie, der gute Tod. »Herr Müller wird am Mittwoch sterben und am Samstag beerdigt. Ab Freitag kann das Zimmer wieder belegt werden.« Auf diese Weise wird dann gleich das Sterben mit entsorgt. Anständig stirbt man künftig kurz und schmerzlos. Entweder durch Unfall – »so plötzlich, wie beneidenswert!« – oder durch Spritze. Wer ausnahmsweise ein unsolidarisches langsames Sterben wählt, indem er sich für einen unkalkulierbaren Sterbeprozess entscheidet – mit erheblichen Belastungen für das Gesundheitssystem und nicht zuletzt für die Angehörigen –, muss sich zusatzversichern. Auf solche Weise scheint man sie also loswerden zu können, die Schattenseiten menschlicher Existenz. Übrig bleibt eine glatte, immer junge, schöne neue Welt ohne jeden Schatten.
    Lustig allerdings wäre das alles für den Einzelnen nicht besonders, von Lebenslust ganz zu schweigen. Denn zwar wird so die sichtbare Oberfläche der Gesellschaft als Ganze schattenlos auf Hochglanz gehalten, aber jeder Einzelne muss irgendwann abtauchen in den Schatten, entweder pflichtbewusst freiwillig oder notfalls zwangsweise. Unter immer strengeren Kriterien werden möglicherweise die Zeiten am Licht für jeden immer kürzer werden. Zeitige Euthanasie

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