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Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Titel: Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Lütz
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oder wie man Polizisten glücklich macht
    Burkhard ist ein außergewöhnlicher Mensch. Wenn er einen Raum betritt, in dem, sagen wir einmal, dreißig depressiv gestimmte Menschen sitzen, gelingt es ihm, in kürzester Zeit eine heitere Atmosphäre herzustellen. Wie er das im Einzelnen macht, kann man nicht genau sagen. Kommunikationstheoretisch könnte man beschreiben, dass er in den starren Kontext plötzlich eine ganze Menge Unterschiede einführt, die einen wirklichen Unterschied machen. Insbesondere überschreitet er souverän und problemlos Distanzen zu anderen Menschen, allerdings immer, ohne diese Menschen zu verletzen. Und er strahlt dabei eine völlig ungekünstelte, ansteckende Herzlichkeit aus. Was ist das Geheimnis des »Phänomens Burkhard«? Nüchtern betrachtet, liegt alldem eine besondere Fähigkeit zugrunde: Burkhard ist behindert, wie man so sagt. Schwer geistig behindert sogar. Er kann keinen Satz grammatisch richtig formulieren, was ihn aber nicht daran hindert, viel zu reden. Und jeder versteht ihn. An dieser Stelle muss man ausdrücklich einem Missverständnis vorbeugen. Es geht mir hier nicht um jenes betuliche Hochjubeln von Behinderten nach dem Motto: »Dass diese armen Menschen so etwas können!« Wenn Behinderte Unsinn machen oder Unbrauchbares herstellen, dann ist das unsinnig und unbrauchbar. Was ich bei Burkhard allerdings in allem Ernst behaupte, ist, dass seine Behinderung eine Fähigkeit ist. Nicht nur die Behinderung. Burkhard ist ein Mensch von ausgesprochener menschlicher Herzlichkeit. Aufgrund seiner Behinderung trägt er diese Herzlichkeit nicht normal verschlossen oder gar neurotisch verklemmt in sich. Burkhard ist nicht hemmungslos, aber unmittelbar. Er gehört zu einer Gruppe behinderter und nicht behinderter junger Menschen ohne professionelle Betreuer in Bonn namens »Brücke-Krücke«. Er hat eine zentrale Stellung in dieser Gruppe. Er sorgt für ein hohes Maß an Außenkontakten, da er unproblematisch ziemlich viele Menschen anspricht, und er hat ein wirkliches Talent für Entertainment.
    Als die Gruppe bei einer Städtebesichtigung einen großen Platz betritt, steht am Rand ein Polizeiauto mit zwei ziemlich finster dreinschauenden Polizeibeamten. Ein heißer Tag, ein heißes Auto, ein unter polizeilichen Gesichtspunkten langweiliger Platz. Niemand bemerkt sofort, dass sich Burkhard just zu dem Polizeifahrzeug aufgemacht hat. Als man es bemerkt, ist es schon zu spät. Burkhard nähert sich bereits fröhlich ausladenden Schritts dem Fahrzeug der Ordnungshüter. Deren Mienen verfinstern sich noch mehr. Nach kurzer Irritation setzen die Beamten sich in Positur und nehmen eine amtliche Haltung ein, soweit das in einem Auto möglich ist. Burkhard lehnt sich etwas kumpelhaft an das Auto, was den Adrenalinspiegel der Polizisten steigen und ihren Gesichtsausdruck leicht bedrohlich werden lässt. Aber noch ehe sie etwas sagen können, eröffnet Burkhard den Dialog mit dem intensiven Ausruf: »Immer arbeiten!« Dabei schaut er mit vor Anteilnahme schmerzverzerrtem Gesicht in die amtliche Miene des Polizisten, die sich nun etwa 10 Zentimeter vor ihm befindet. Dem bleiben vor Verblüffung die Gesichtszüge stehen. Mit so etwas hat er nun wirklich nicht gerechnet. Mit noch größerem Nachdruck wiederholt Burkhard: »Immer arbeiten!« In seinem Klagegestus spiegelt sich das Seufzen des ganzen Menschengeschlechts unter der Last der Arbeit seit der Vertreibung aus dem Paradies. Der Augenausdruck des Beamten spiegelt eine gewisse Hilflosigkeit. Ein verstohlener Blick geht zum Kollegen. Der weiß aber auch nicht weiter. Inzwischen bleiben einige Leute stehen. Mit einer Aggression dieses Subjekts ist wohl nicht zu rechnen, das hat der Polizist jetzt gemerkt. Aber womöglich liegt der Fall noch schlimmer, womöglich ist dieser Mann verrückt und gibt die Staatsmacht nun der Lächerlichkeit preis. Bevor man aber zu einem Entschluss gelangt ist, irgendetwas zu unternehmen, setzt Burkhard den bisher etwas einseitigen Dialog mit der ebenso intensiv vorgetragenen bohrenden Frage fort: »Warum arbeiten? Warum eigentlich?« Breit lächelnd, aber ganz ernsthaft fragend schaut Burkhard nun von oben in das Polizeiauto. Noch mehr Menschen sind stehen geblieben. Hier gibt es offenbar etwas zu sehen. Der Beamte, vor dem Burkhard gerade seine Zähne entblößt hat, begreift jetzt, dass er etwas sagen muss. Er stottert etwas von Geld und man müsse sich ja auch mal was kaufen und so. Nun gewinnt das

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